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Interview mit Wolfgang Cortjaens

17. Juli 2016

Wolfgang Cortjaens ist Leiter des Archivs des Schwulen Museums*. Im Interview spricht er über die Pflicht zur Erinnerung, den Stand der Digitalisierung und den neuen Pornostopp.

Von Kevin Clarke

Du bist promovierter Kunst- und Bauhistoriker und hast an großen Institutionen wie der Nationalgalerie und am Deutschen Historischen Museum in Berlin gearbeitet, danach als Kustos und stellvertretender Museumsleiter am Begas Haus in Heinsberg. Jetzt bist du an ein vergleichsweise kleines Haus gewechselt: das Schwule Museum* in Berlin. Warum?

Ich betrachte es als echte Herausforderung, nach jahrelanger „konventioneller“ Museumsarbeit nun an einem Haus mit einem dezidiert politischen Auftrag zu arbeiten. (lacht) Für mich bot die Rückkehr nach Berlin, das mir durch mehrere Vorgängerprojekte schon lange zweite Heimat ist, beruflich und auch persönlich die Chance zu einem Neuanfang.

Auch würde ich das Schwule Museum* nicht unbedingt als „klein“ bezeichnen: Mit geschätzten 1,5 Millionen Archivalien und Realien zur Geschichte sind wir eine der weltweit größten und bedeutendsten Institutionen für die Erforschung und Vermittlung von Geschichte und Kultur der LGBITQ*-Bewegungen. Das Schwule Museum* verfügt über herausragende Bestände und bietet inhaltlich einzigartige Möglichkeiten.

Außerdem sind die graduellen Unterschiede, was die Verarbeitung von und den Umgang mit Archivmaterial betrifft, gar nicht so verschieden von der Arbeit an anderen Museen. Ob man verrottende römische Brückenpfeiler, wilhelminische Skulpturen oder eine lesbische Dildosammlung betreut, ist – rein technisch gesehen – letztlich nur ein gradueller Unterschied. (lacht)

Die alltäglichen organisatorischen Abläufe sind dieselben: Leihanfragen wollen bearbeitet, Schenkende betreut, Bestände sortiert und verarbeitet werden usw. Das heißt konkret, man sortiertund inventarisiert die Bestände nach archivarischen Kriterien: Aufbewahrung in Mappen, Vergeben von Signaturen, Erstellen von Findbüchern, aber auch Ermittlung von Restaurationsbedarf usw. Dies alles sind Voraussetzungen dafür, dass überhaupt etwas für die Benutzer bereitgestellt werden kann.

Das Archiv des Schwulen Museums* ist über 30 Jahre gewachsen. Was findet sich alles darin?

Das Archiv wurde 1984 parallel zur Gründung des Schwulen Museums* als typisches Bewegungsarchiv aufgebaut und ist schon eine einzigartige Schatztruhe. Vor- und Nachlässe von Personen bilden natürlich einen Kernpunkt der Bestände, hier wird vielleicht mehr noch als in anderen Bewegungsarchiven Geschichte konkret an persönlichen Schicksalen, aber auch an Sammelleidenschaften greifbar. Egal ob es sich nun um die Hinterlassenschaft eines Travestiestars der 1960er Jahre, den Nachlass des Künstlers Eberhard Brucks oder um eine Dildosammlung aus lesbischem Privatbesitz handelt.

Daneben existiert eine Vielzahl thematischer Sammlungsbereiche, zum Beispiel aus der Gründungsphase der frühen Schwulenbewegung. Im Bereich der Fotokunst sind zu nennen die Vorlässe bzw. Deposita zu Jürgen Baldiga, Petra Gall und Rüdiger Trautsch. Und natürlich die großartige Sammlung von Andreas Sternweiler, die erst vor wenigen Jahren mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder und zahlreicher privater Spender erworben werden konnte.

Besonders berührend finde ich persönlich die Nachlässe von eher unbekannten Personen, deren Hinterlassenschaften nach ihrem Tod ohne den Einsatz von Freunden oder Angehörigen unweigerlich auf dem Müll gelandet wäre, wie etwa die jüngst angelieferten persönlichen Dokumente des 1996 mit 44 Jahren an den Folgen von Aids verstorbenen Theaterschauspielers Klaus Hoffmann. Gerade in diesem Bereich hat das Schwule Museum* – wie übrigens andere Freie Archive auch – die Aufgabe und Pflicht, zu sammeln, zu bewahren, zu erhalten, vor allem aber: zu erinnern.

Die meisten kennen das Museum als Ausstellungsfläche. Kann man als regulärer Besucher auch das Archiv erkunden?

Das Archiv befindet sich in gesicherten Depoträumen und ist generell nur in Form einer Führung zu besichtigen. Das wollen wir in Kürze testweise anbieten, aus Platzgründen sind allerdings nur kleinere Gruppen (maximal zwölf Personen) möglich. Je nach Resonanz kann das durchaus eine feste Größe im Angebot werden.

Wer kommt eigentlich normalerweise ins Archiv – und was für Gespräche ergeben sich mit diesen Gästen?

Gerade aus dem universitären Bereich oder aus dem Archivwesen werden Führungen bei uns angefragt. Vor allem Studenten und Forscher aus dem Bereich Gender Studies finden den Weg zu uns. Darunter viele internationale Besucher. Seit meinem Amtsantritt im April haben etwa Forscher aus England, den Niederlanden, Kanada, den USA, Russland, der Türkei und Israel das Archiv konsultiert, oft für mehrere Tage. Dies zeigt, welchen Ruf und Bekanntheitsgrad das Museum innerhalb der Community hat, und zwar weltweit.

Eines deiner erklärten Ziele als Archivleiter ist es, diesen zentralen Bestandteil mehr ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken.

Ein Archiv ist generell ein lebendiger Ort, an dem Geschichte gebündelt bewahrt wird. Das Archiv braucht ein stärkeres Profil und eine Plattform innerhalb des Schwulen Museums*. Zum einen wird das hoffentlich bald durch die von vielen Besucher vermisste und immer wieder angemahnte neue Dauerausstellung wenigstens teilweisen aufgefangen.

Eine fünfköpfige Projektgruppe arbeitet gerade an einem Antrag, mit dem schrittweise die Digitalisierung und das Online-Stellen unserer Bestände vorangetrieben werden soll. Auch werden zukünftig einzelne Bestände in Form von Sonderveranstaltungen, Workshops und Lesungen stärker ins Licht gerückt. Einen Vorgeschmack darauf geben im August eine Kooperation mit der NGBK-Projektgruppe „ccSPORT“ und am 15. September die Übergabe des Archivs des Literarturwissenschaftlers und Schriftstellers Michael Fisch, die mit einer Autorenlesung aus seinem neuem Roman kombiniert sein wird. Und in der Langen Nacht der Museen am 27. August werde ich selbst den DJ machen. Dann gibt’s was auf die Ohren, natürlich ausschließlich Schätze aus unserer wunderbaren Vinyl-Sammlung.

Wenn im Archiv so viele Schätze liegen, wieso sieht man diese Schätze so selten in Ausstellungen?

Das stimmt so ja nicht. Immer wieder schöpfen unsere Ausstellungen aus dem eigenen Bestand, wie zuletzt die in Kooperation mit dem Deutschen Historischen Museum in Berlin und aktuell in Münster gezeigte Ausstellung „Homosexualität_en“ oder die von unserer „Gründungsmutter“ Wolfgang Theis kuratierte Reihe „Tapetenwechsel“. Der Besuch beider Ausstellung im letzten Herbst hat mir die Augen geöffnet, welches Potenzial im Archiv schlummert und war letztlich mit ausschlaggebend dafür, mich hier zu bewerben. Wir werden künftig mit gezielten Aktionen die Sichtbarkeit des Archivs nach außen erhöhen.

Gibt’s Pläne, einzelne Sammlungen auch in Buchform zu veröffentlichen: damit ein internationales Publikum überhaupt mitbekommt, was es alles im Schwulen Museum* gibt?

Publikationen und kleine Reihen, etwa die „Lebensgeschichten“, gab es ja schon in der Vergangenheit. Das Problem bei Büchern ist, dass sie sehr arbeits- und kostenintensiv sind. Dafür fehlt uns einfach das Budget. Aber ich wäre durchaus offen, wenn ein Verlag sich für bestimmte Bereiche, gerade im Bereich Foto, Kunst und Plakate interessieren ließe. Denn gerade in dieser Hinsicht hat das Museum einiges zu bieten.

Zum Archiv gehört auch die Bibliothek.

Die Bibliothek ist mit ihren inzwischen rund 20.000 Bänden weltweit eine der größten Fachbibliotheken zur Geschichte der LGBITQ*-Bewegungen. Viele historische Zeitschriften und Periodika findet man in dieser Vollständigkeit nur hier; erst neulich wurden aus L.A. mehrere Jahrgänge der ersten Homosexuellen-Zeitschrift überhaupt, „Der Eigene“, angefragt.

 

Mit wem arbeitest du im Archiv zusammen? Wie wichtig sind Ehrenamtler in diesem Kontext?

Die Frage beantworte ich gern, und am liebsten würde ich alle 20 Ehrenamtler im Bereich Archiv und Bibliothek jetzt namentlich aufzählen. Es ist eine fantastische, im wahrsten Sinne bunte Truppe und gewissermaßen die Beatmungsmaschine des Archivs. Die „EAs“ arbeiten einzelne Bestände so auf, dass sie überhaupt benutzbar zugänglich gemacht werden können, machen Bibliotheksdienst und was sonst so ansteht. Auch der kreative Input ist enorm. Alle bringen sich ein und steuern immer neue Ideen bei, wie man bestimmte Arbeitsabläufe optimieren könnte.

Und dann sind da noch meine Mitarbeiterin Kristine Schmidt, die mir in den ersten Wochen einen regelrechten Crashkurs verpasst hat und die zusammen mit der wissenschaftlichen Volontärin Katja Koblitz das Archiv während der sechsmonatigen Vakanz im letzten Herbst/Winter vorbildlich betreut hat. Wenn man nicht weiter weiß oder etwas sich nicht auf Anhieb findet, kann man sich immer auf die beiden verlassen. Für diese gelebte Kollegialität bin ich sehr dankbar!

Bekommt das Museum immer noch regelmäßig private Schenkungen? Was kommt dann: Kisten voller Pornos? Kunst? Immobilien?

Naja, Immobilien wären schön. Vor allem größere Lager- bzw. Depoträume. (lacht) Nee, ernsthaft: Das Archiv hat bald ein Platzproblem! Im Moment ist es etwas ruhiger, aber letzten Monat kamen tatsächlich Kisten über Kisten, mindestens 20 Umzugskartons. Darunter sind meist viele Bücher und Zeitschriften für die Bibliothek, aber eben auch die schon erwähnten Personen-Nachlässe, bei denen man nie weiß, was drin ist. Bei den Porno-DVDs bzw. VHS-Kassetten habe ich allerdings aus Platzgründen erstmal den Deckel draufgemacht, auch weil der Materialzerfall ziemliche Probleme bezüglich Haltbarkeit und Lagerung birgt. Ein Sonderfall sind Super-8-Filme, die tatsächlich einzigartige frühe Quellen darstellen und deswegen weiter angenommen werden.

Du bist jetzt seit fast drei Monaten im Schwulen Museum*: Wie erlebst du diese Institution und ihre Mitarbeiter? Ist es so, wie du dir das vorgestellt hattest?

Es ist – anders! Im positiven Sinne, weniger hierarchisch, sehr auf Konsensfindung bedacht, gerade auch um allen Teilen der Community, die hier ihr „Zuhause“ haben sollen, gerecht zu werden. Natürlich bringt diese Vielstimmigkeit immer wieder auch Probleme und Diskussionsbedarf. Aber das gehört zu einem Freien Archiv ohne Top-Down-Strukturen einfach dazu.

Wie hat deine Familie oder wie haben deine Kunst- und Bauhistoriker-Kollegen darauf reagiert, dass du ans Schwule Museum* gehst?

Einige waren schon irritiert. Der wohl typischste Kommentar war „Was willste denn da?“ Da wird dann schon spürbar, wie heteronormativ der Blickwinkel (zumindest außerhalb Berlins) immer noch ist. Es geht gar nicht so sehr um Vorurteile, sondern schlichtweg um das Ausblenden jeglicher „queerer“ Aspekte. In meinem Hetero-Freundeskreis können sich die meisten unter dem Schwulen Museum* entweder gar nichts vorstellen, und wenn man versucht zu erklären, warum es als Institution so wichtig ist, stößt man – leider – auf größere Widerstände als ich vermutet hätte. Ichglaube aber nicht, dass mir jetzt für den Rest meines Lebens der „rosa Winkel“ anhaftet.

Dein Wunsch für die Zukunft?

Ganz klar: Eine Vision für das gesamte Haus, die sich auch in der Ausstattung und Finanzierung widerspiegelt. Ein geräumiges Außendepot, neue Archivschränke, fest angestellte und angemessen bezahlte Mitarbeiter, eine solide Datenbank und eine Dauerausstellung, die der Bandbreite des Themas LGBITQ* gerecht wird.