45. Transi Traum
Toni Transit
Schuhe
Berlin, DE, ca. 2000er Jahre
Affekt: Freude
„In unserem queeren und vertranstem (wichtig, nicht vertanzt, sowas würden wir ja nie tun) Programm beugen wir als schwule Friseure, harte Lederkerle, lesbische Tunten, smarte Herzensbrecher, deutsche Ballermann-Männer, als charmante Gentlemen, sexy Rockstars, als Boy-/Girl-Group oder Hafenjungs jedes Gender- & Musikgenre. […] Denn wer sich mit zwei Geschlechtern zu früh zufrieden gibt, ist selber schuld.“
Soweit die Dragking-Gruppe Kingz of Berlin in einer Selbstbeschreibung. Von Toni Transit, einem ihrer Mitglieder, stammen diese Schuhe. Sie stehen für eine Performance-Kunst von FLTI*-Performer_innen, die Geschlechterrollen persiflieren. „Was wir versuchen ist zur Geschlechterverwirrung beizutragen. Je mehr Verwirrung umso mehr Offenheit, das ist die Perspektive die wir vertreten.“ Die Kingz of Berlin trugen seit 2000 mit ihren Shows und Parties wie der „Penis Night“, dazu bei, das Dragkings mittlerweile im Mainstream angekommen sind. Es gab eine breite Medienberichterstattung über sie, bis hin zum Magazin Brigitte.
46. Frau Poppe
Jürgen Baldiga
Silber-Gelatine-Druck
Berlin, DE, ca. 1980er Jahre
Affekt: Fürsorge
Neben seinen emotionalen Selbstporträts (siehe Objekt 4) dokumentierte Jürgen Baldiga auch die Berliner Travestie-, Nacht- und Subkultur-Szene der 1980er und der frühen 1990er Jahre. Dieses eindrucksvolle und feierlich schöne Porträt zeigt die Drag-Performerin Melitta Poppe, die 1985 die legendäre „Ladies Neid“-Truppe mitbegründete (auf Englisch ist der Name vom Klang her identisch mit „Ladies’ Night“ – also „Damenabend“). Poppe ist für ihre bissigen und politischen Performances bekannt und wurde von Fabienne du Neckar als ein „Engel der Berliner Travestiegeschichte“ beschrieben (und auch scherzhaft-liebevoll als „die Salzsäure der westlichen Kultur“).
47. Teddy Award Statue, verliehen an Werner Schröter
Ralf König (Entwurf) und Astrid Stenzel (Ausführung)
Metallskulptur
Berlin, DE, 2010
Affekt: Freude
Der Teddy Award ist ein Filmpreis, der jährlich bei der Berlinale von einer unabhängigen Jury verliehen wird. Er wird an Filme vergeben, die sich um LGBTQI-Themen und Geschichten drehen. Seit 1987 wurde die Trophäe in drei Hauptkategorien verliehen: Bester Film, bester Kurzfilm und bester Dokumentarfilm. Außerdem gibt es einen Jury-Preis und üblicherweise einen Preis für besondere Leistungen. Letzterer geht an eine Einzelperson, die während ihrer Karriere zur Bedeutung des LGBTQI-Kinos beigetragen und es vorangebracht hat. Erst 1992, in seinem sechsten Jahr, wurde der Teddy offiziell Teil der Berlinale. Seit 1987 wird der Teddy jedoch als wichtiger Preis, der die Bedeutung und Qualität von queerem Kino hervorhebt, wahrgenommen. 2010, kurz vor seinem Tod, wurde der Filmemacher, Drehbuchautor und Opernregisseur Werner Schröter (1945–2010) mit dem Teddy für besondere, persönliche Leistungen geehrt. Schröter, der für seine hochgradig stilisierten Filme bekannt ist, wurde von Rainer Werner Fassbinder als wichtiger Einfluss genannt und hatte schon mit Rosa von Praunheim und Elfriede Jelinek zusammengearbeitet, bevor er eine Reihe von provozierenden politischen Dokumentationen machte.
48. Techno-Flyer-Alben
Klaus Härlin
Gedruckte Flyer in Alben eingeklebt
Berlin, DE, 1990-1999
Affekt: Freude
Klaus Härlin (1968-1999) zog 1988 im Alter von 20 Jahren aus Schwäbischen Hall nach Berlin. Unter dem Namen Klaus oder seinem Tunten-Namen Else Elsterhof wurde er in der autonomen schwulen oder anarcho-schwulen Szene in Berlin aktiv. Er war einer der ersten Bewohner des noch existierenden Tuntenhauses, das er 1990 am Standort Mainzer Straße in Friedrichshain mitbesetzte. Bei der Räumung des Projekts (und vieler anderer alternativer Wohnprojekte) im November 1990 durch die Polizei war er auch dabei. Dieser gewaltsame Großeinsatz, an dem Tausende von Polizisten aus mehreren Bundesländern beteiligt waren, war einer der größten im Berlin der Nachkriegszeit. Härlin zog mit dem Tuntenhaus in die Kastanienallee im Prenzlauer Berg, seinem heutigen Standort.
Aktiv in antifaschistischer Selbstorganisation und in der queeren Gruppierung der PDS (der Vorgängerpartei von Die Linke) war Härlin auch in der lebendigen Techno-Szene der 1990er Jahre unterwegs. Seine persönlichen Papiere im Archiv enthalten (neben Dokumenten seiner politischen Arbeit und vielen persönlichen Fotos) Hunderte von Techno-Flugblättern. Einige dieser Flugblätter bewahrte er in Fotoalben auf, wie den hier gezeigten. Viele Queers haben solche zutiefst persönlichen Privatarchive angelegt; der Drang, die eigene fortlaufende Geschichte zu bewahren und zu sammeln, ist für das Erleben vieler queerer Menschen von zentraler Bedeutung. Härlin starb in der Nacht der Love Parade, am 11. Juli 1999, an einer Aids-bedingten Krankheit.
49. Berghain/Panoramabar-Flyer
Fotografie: Heinz-Peter Knes
Gedrucktes Papier
Berlin, DE, 2005
Affekt: Freude
Die Legende von Berlin als schwulem Techno-Wunderland wurde mit dem Fall der Mauer 1989 geboren. Da war er, der Sommer der Liebe, die Subkulturen blühten in verlassenen Gebäuden, die Techno-Partys in Lagerhallen mitten in der Stadt. Aus anderen Teilen des Landes flossen Geldströme, als die Bundesrepublik später Berlin zur Hauptstadt des neu vereinigten Staates machte; einer führenden Rolle im neuen, liberalen Europa würdig. In der Stadt, die seit jeher den Ruf hat sehr offen zu sein, in der sexuelle Minderheiten ein Zuhause finden konnten, schossen neue queere Subkulturen aus dem Boden. Die Stadt begann schließlich, ihre Subkultur als Markenzeichen zu verstehen: mit ihrem ehemaligen Bürgermeister Klaus Wowereit, der offen schwul war und Berlin „arm, aber sexy” nannte. In der Folge wurde Techno im ehemaligen Osten zu einer festen Institution: aus den anarchistischen Fetisch-Snax-Partys ohne festen Ort wurde zunächst der illegale Club Ostgut und dann 2004 der weltbekannte Techno-Club Berghain (benannt nach seinem Standort im Bezirk Kreuzberg-Friedrichshain), der heute den gleichen Steuerstatus hat wie ein Opernhaus. Dieser Flyer aus dem ersten Betriebsjahr des Berghain vermittelt etwas von der Ästhetik dieser Jahre.
Von der Eröffnungsnacht 2004 im Berghain berichtet der DJ Daniel Wang: „Es geht nicht um feine, exklusive Schönheit, ironischen Witz oder sentimentale Nostalgie. Es geht um den menschlichen Körper, um den gegenwärtigen Moment – Ausdauer, Glückseligkeit, fortwährende Bewegung. Es ist nur eine Masse von Menschen, betrunken von Bier oder high von wer weiß was, die von einem unwiderstehlichen Drang getrieben wurde, sich zu bewegen, zu schütteln, die Haut des anderen zu berühren. Der Raum ist ein lebendiges, unendlich bewegtes Panorama.”
50. Oz-Party-Posters
Farbdrucke
Berlin, DE, 2000
Affekt: Freude
Der Berliner Homo-Partykalender der späten 1990er und frühen 2000er Jahre war, wie so oft in der Geschichte dieser Stadt, sehr voll. Die TransLesBiSchwulen „Oz”-Parties, die explizit als Inklusivräume von und für ein breites Spektrum von Queers konzipiert waren, im Gegensatz zu den meist schwul-männlich dominierten Partys an anderen Orten, waren ein kitschiger Tanzspaß am vierten Samstag im Monat im BKA-Luftschloss am Schlossplatz. Jede Party hatte mehrere Tanzflächen, eine Außenterrasse an der Spree und Tunten-Shows, die unter dem gleichen Motto standen wie das Plakat und die Dekoration. Die erste Party fand natürlich in der queeren Wunderwelt von Oz statt, mit Techno Judy Garland, Tin Man, Scarecrow, Lion(ess) und Toto, dem Hund. Die Oz-Parties gehen auf BeV StroganoV zurück. BeV ist ehrenamtlich im Museum tätig und hat uns bei der Auswahl und Präsentation der Tunten- und Filmkostüme in dieser Ausstellung, der er enorm viel Zeit und Sorgfalt gewidmet hat, sehr geholfen.
51. Coming-out Album von Nadja Schallenberg
(Archivbestand Nadja Schallenberg)
Collage mit persönlichen Dokumenten, Fotos und Gedichten
Berlin 1990
Affekt: Fürsorge
In diesem sehr persönlichen Dokument beschreibt Nadja Schallenberg den langen Weg ihrer Transition. Sie schenkte dieses Album Weihnachten 1990 ihren Eltern, um sich bei ihnen für ihre vorbehaltlose Unterstützung zu bedanken. Nadja Schallenberg wurde am 21. März 1969 in Ostberlin geboren. 1989, noch vor dem Mauerfall, beginnt sie als Frau zu leben. In dieser Zeit gründete sie auch die „Interessengemeinschaft der Transvestiten und der Transsexuellen in Ostberlin“, die sie bis Ende 1991 leitete. Noch in der DDR stellte Nadja Schallenberg im Februar 1990 einen Antrag auf Personenstandsänderung, der zwar im Oktober des gleichen Jahres bewilligt, aber in Folge der Wiedervereinigung kurz darauf für ungültig erklärt wurde. Ihr Antrag auf Vornamensänderung wurde wegen der Nichterfüllung der Altersgrenze von 25 Jahren abgelehnt. Von 1992 bis 1993 widmete sie sich dem Aufbau eines „Kommunikationszentrums für Transvestiten und Transsexuelle“ beim Sonntags-Club e.V. in Prenzlauer Berg in Berlin. Die Eröffnung dieses Info-Ladens fand am 9. Oktober 1992 in der Kopenhagener Straße 14 statt. Im Jahr 2019 schenkte Schallenberg das hier gezeigte Album dem Schwulen Museum, wo es in ihren bereits vorhandenen persönlichen Archivbestand eingegliedert wurde. Darin befinden sich, neben persönlichen Dokumenten, auch Entwürfe und Vorschläge von Schallenberg zur Änderung des Transsexuellengesetzes, Unterlagen der „Interessengemeinschaft der Transvestiten und Transsexuellen“ und Material aus dem Info-Laden vom Sonntags-Club e.V. Aber auch Darstellungen zur allgemeinen Situation von trans Personen gehören zur Überlieferung.
52. Freundschaftsfoto
Jürgen Wittdorf
Holzblockdruck auf Papier
Berlin (Ost), DE, 1964
Affekt: Fürsorge
Der 1932 geborene Grafiker Jürgen Wittdorf (1932-2018) überlebte das Nazi-Regime und den Krieg und erhielt seine künstlerische Ausbildung Anfang der 1950er Jahre an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Berühmt wurde er in den 1960er Jahren durch seine Zeichnungen und Holzschnitte, die befreite Jugend und sexualisierte Männerkörper zeigen, Bilder, die durch die Idealisierung des Leichtathletikprogramms und der Jugendvereine der DDR die Zensur überlebten. Dieser Druck zeigt eine Gruppe muskulöser Sportler auf einem Feld: insgesamt sieben – vier weiße und drei schwarze – die für ein Foto posieren. Einer dient als Fotograf, zwei weitere schauen zu, kontrapostisch stehend. Dieses Bild ist einzigartig in unserer Wittdorf-Sammlung, da es auch schwarze Personen mit einbezieht. Hier sind zwei unterschiedliche Themen im Spiel. Da ist zum einen die bekannte, exotisierende, sexuelle schwule Linse, in der die erotisierten Körper schwarzer Männer und men of color als Spektakel von weißen Künstler*innen einem weißen Publikum präsentiert werden. Allerdings wird dieses Werk durch den geopolitischen Kontext verkompliziert, in dem es entstanden ist: Mitte und Ende der 1960er Jahre war die DDR Gastgeber von antirassistischen und antikolonialen Aktivist*innen (wie Angela Davis, die 1968 an der Humboldt-Universität promovierte) und verstand sich als antiimperialistische Macht. Der Titel mag sich auf die „Brigaden der Freundschaft” beziehen, den internationalistischen Flügel der Freien Deutschen Jugend (FDJ), die später im Zuge der Entkolonialisierung in Angola und Mosambik aktiv waren.
53. Homolulu
Wilfried Laule
Schwarz-Weiß-Foto
Frankfurt am Main, DE, 1979
Affekt: Freude
Der junge Mann auf diesem Foto, aufgenommen 1979 von Wilfried Laule während des internalen Kongresses Homolulu in Frankfurt am Main, blickt hoffnungsvoll in die Zukunft. In den 1970ern hatte sich die lesbisch-schwule Bürgerrechtsbewegung in Deutschland formiert, die ersten CDS fanden statt. Von Aids war noch keine Rede. Eine queere Utopie schien möglich. Homolulu wurde aber auch ganz konkret ein Initialmoment vieler wichtiger Vereine und Institutionen, so z.B. der AG schwule Lehrer in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) oder der Akademie Waldschlösschen, die 1981 gegründet wurde. Eine Woche lang kamen über 2000 Besucher nach Frankfurt, überregionale Medien und zum ersten Mal auch die Tagesschau berichteten über schwule Themen. Tagsüber saß man in Seminaren zusammen, abends gab es Kulturprogramm und es wurde gefeiert. Im historischen Rückblick werden aber auch die Grenzen und Probleme der Veranstaltung deutlich: Homolulu war eher von einem separatistischen Geist geprägt: für Lesben und Trans hatte die Veranstaltung wenig zu bieten. In den Seminaren spielte das Thema Pädosexualität eine Rolle, das damals für viele zur Befreiungsbewegung dazu gehörte.
54. LGBTQQIP2SAA+
Arjun Lal
Stofffahne
Halifax, Kanada, 2018
Affekt: Fürsorge
Am 25. Juni 1978 wehte die originale Gay-Pride-Flagge bei der „Gay Freedom Day Parade“ in San Francisco. Die ursprüngliche Flagge enthielt 8 horizontale Streifen: Rosa (Sex), Rot (Leben), Orange (Heilung), Gelb (Sonnenlicht), Grün (Natur), Türkis (Magie/Kunst), Indigo (Gelassenheit) und Violett (Geist). Um eine größere Anzahl von Identitäten aus zeitgenössischen queeren Kulturen mit einzubeziehen, wurde diese Erweiterung der Flagge von Arjun Lal geschaffen. Lal ist ein interdisziplinär arbeitender Künstler aus Halifax-Dartmouth, Kanada, dessen Arbeit sich auf Themen der queeren Kultur wie Safe Spaces, Aufbau von Communities, öffentliche Einrichtungen und Selbstfürsorge bezieht. Lal schreibt: „Stolz spaltet, er ist schön, er ist politisch, und er hat die Fähigkeit, über Gemeinschaften, Schnittpunkte, Politik und Identitäten hinweg zu verbinden.” Eine große Version dieser Flagge hängt über der Gepäckausgabe am internationalen Flughafen Halifax Stanfield. Das Werk wurde dem Museum von dem Künstler nach seinem Aufenthalt in Berlin im Jahr 2018 geschenkt.
55. Ohne Titel
Herbert Tobias
Schwarz-Weiß-Foto
Berlin (West), DE, ca. 1970er Jahre
Affekt: Fürsorge
Weil Herbert Tobias (1924-1982) wegen des Paragrafen 175 denunziert worden war, zog er mit seinem Partner 1950 nach Paris. Dort begann seine Karriere als Modefotograf unter anderem für Vogue. Wenige Jahre später ließ er sich in West-Berlin nieder, wo er das Fotomodell Christa Päffgen entdeckte, die später als Nico mit Andy Warhol und den Velvet Underground als Sängerin und Stilikone Karriere machte. Seine künstlerischen Ambitionen verwirklichte Tobias in erster Linie durch erotische Männerfotografie. So wurde er zum Chronisten des schwulen Lebens in Deutschland und Europa vor und nach Stonewall und der Entkriminalisierung männlicher Homosexualität in der Bundesrepublik 1969. Die Aktfotos seiner Modelle machte er entweder an abgelegenen Orten in der Natur oder in der Privatheit eines Schlafzimmers. Tobias’ Bilder spiegeln dabei auch die wechselnden Moden der Zeit: Hier im Bild sehen wir einen „Post-Hippie“ oder „soften Clone“, so könnte man sagen, ein Männlichkeitsstil, der sich in den 1970ern in der westlichen Welt durchsetzte. Im Unterschied zu den Aufnahmen der schwulen Presse in Deutschland, die seit den späten 1960er Jahren auch Nacktaufnahmen zeigen konnte, sind Tobias’ Bilder aber stets viel mehr als pornografisches Anschauungsmaterial. Sie erzählen von den Wünschen, Sehnsüchten und Träumen dieser jungen Männer, die sich aus den privaten Umgebungen ihrer Wohnungen schließlich in die Öffentlichkeit der Gesellschaft hinaus wagten. Herbert Tobias war eines der ersten prominenten Opfer von Aids in Deutschland (siehe auch Objekt 87).
56. Charlotte / Salome / Veronika / Transvestiten
Susann Hillebrand / Irmgard Johannson
Buch
München, DE, 1978
Affekt: Freude
„Charlotte / Salome / Veronika / Transvestiten“ ist ein visionärer Foto- und Interviewband der 1978 von Susann Hillebrand und Irmgard Johannson veröffentlicht wurde. Die Autorinnen stellen den Lesenden die drei Frauen* Charlotte, Salomé und Veronika vor und lassen sie selbst zu Wort kommen. Damit stehen sie in der Tradition einer Literatur der 1970er Jahre, die aus Tonbandprotokollen entsteht. Sie wurde in erster Linie von Frauen über Frauen geschrieben, zum Beispiel Maxie Wanders „Guten Morgen du Schöne” oder Erika Runges „Bottropper Protokolle”. Diese Form des Schreibens versucht den Sprechenden als Subjekten Raum zu geben, wobei die Interviewenden in den Hintergrund treten.
„Charlotte / Salome / Veronika“ ist trotz eher veralteter Fremdbezeichnung im Titel ein überraschendes und modernes Werk, das einem Spektrum von trans-Weiblichkeiten eine Plattform bietet und die Konstruktion von Geschlechterbildern hinterfragt. Wir lernen die 78-Jährige Charlotte kennen, die mit Berliner Schnauze als pensionierter Hausmeister (sie selbst verwendet das Er-Pronomen) das Berliner Nachtleben seit der Weimarer Zeit kennt und über ihre Freude an Sexarbeit spricht. Die 22jährige Salomé, in heutigen Begriffen wäre sie vielleicht als nicht-binäre Femme-Drag-Performance-Künstler_in und Maler_in zu beschreiben, ist Studentin an der damaligen Hochschule der Künste. Sie kommt aus „subproletarischen“ Verhältnissen und war in seiner/ihrer Jugendzeit heroinabhängig. Selbstverteidigung ist Teil ihrer Selbstdefinition: „Wenn mich einer anpöbelt, pöbel ich zurück, schon immer.“ Während Salomé das „kommerzielle […] Showgeschäft der Transvestiten“, wie er/sie es nennt, ablehnt, bedeutet es für die 26jährige Veronika Freiheit. Die Spanierin aus einem religiös geprägten Umfeld wollte mit 18 eine geschlechtsangleichende Operation in Kopenhagen durchführen und entschied sich dann doch dagegen, denn die „Vorstellung, ich käme nach Hause und wäre nicht mehr der gleiche, hätte meine Mutter umgebracht.“ Glamouröses Showgeschäft, klassischer Tanz und aufwändige Kostüme bedeuten für sie persönliche Freiheit.
57. Die Freundin
Hrsg. Friedrich und Martin Radszuweit
Zeitschrift
Berlin, DE, 1923-1933
Affekt: Freude
Der 1876 geborene schwule Verleger und Aktivist Friedrich Radszuweit gründete 1923 im Berlin der Weimarer Republik den Bund für Menschenrecht (BfM) und begann mit der Herausgabe dutzender schwul-, lesbisch- und trans-thematischer Zeitschriften. Der BfM wuchs zur damals wichtigsten (und in gewisser Weise einzigen) großen LGBTQI-Organisation mit 50.000 Mitgliedern an. Die Zeitschriften von Radszuweit, wie etwa die hier vorliegende „Die Freundin”, waren einige der ersten Publikationen, in denen Lesben und Transsexuelle über sich selbst schrieben; in der Zeitschrift wurde die redaktionelle und schriftstellerische Arbeit von Frauen wie Aenne Weber, Elisabeth Killmer, Ruth Margarete Roellig, Selli Engler und Lotte Hahm veröffentlicht. Es gab auch viele Artikel von Männern, vor allem über Politik und aktuelle Ereignisse, was die Machtverhältnisse innerhalb gleichgeschlechtlich orientierter Gemeinschaften verstärkte. Die Freundin wurde während der Weimarer Republik zu einer wichtigen Informationsquelle für viele lesbische Frauen. Obwohl die Herausgabe der Zeitschrift nicht verboten war und man sie an jedem Kiosk kaufen konnte, zogen es viele Frauen vor, die Zeitschrift an Orten zu kaufen, wo sie niemand sehen würde. Helene Stock ermutigte die Frauen, die Zeitschrift in aller Öffentlichkeit zu lesen, um „bei der Aufklärung zu helfen”. Ab 1931 begann Radszuweit, zugunsten der Nazis zu editieren und versuchte so, eine Nische zum Überleben zu finden. Radszuzweits Freund und Nachfolger Martin, der dessen Tod 1932 überlebte, war Mitglied der Hitlerjugend und antikommunistischer Straßenkämpfer. Im Februar 1933 wurden die Büros und der Verlag des BfM von der SA überfallen und zerstört.
58. Elisabeth Leithäuser
Private Fotografie
Silber-Gelatine-Druck
Berlin (West), DE, ca. 1950er Jahre
Affekt: Fürsorge
Elisabeth Leithäuser (1914-2004) entwickelte sich früh zu einer Individualistin mit politisch fortschrittlichen Überzeugungen. Als junge Kommunistin wurde sie 1934 des Hochverrats angeklagt, aber dank einer Meineid-Anklage zu ihren Gunsten freigesprochen. Nach wiederholten Besuchen von Gestapo-Beamten, die sich sowohl für ihre politischen Ansichten als auch für ihre Aktivitäten in lesbischen Kreisen interessierten, zog sie sich mit ihrer Partnerin ins Privatleben zurück. Während der Kriegsjahre besuchte Leithäuser Vorlesungen an der Friedrich-Wilhelms-Universität (heute: Humboldt-Universität), war aber weitgehend Autodidaktin. Das Rundfunkgeschäft erlernte sie bei einer Freundin und schließlich vor allem durch die Praxis. Im Sommer 1945 wurde sie Journalistin beim (sowjetisch geförderten) Berliner Rundfunk. Ihr Wechsel zum (amerikanisch geförderten) RIAS drei Jahre später war politisch motiviert. Dort gründete sie das Jugendradio, führte Interviews mit Opfern des Nazi-Regimes, schrieb Hörspiele und war für Leserbriefe und Frauenfragen zuständig. Als Kolumnistin „Frau Renate” beim Telegraf (einer SPD-nahen Zeitung im Berlin der Nachkriegsjahre) gab sie Ratschläge und half lesbischen Leserinnen in Liebesdingen. In ihrem späteren Leben engagierte sie sich in der Frauen- und Lesbenbewegung der 1970er.
59. Kate Millett, Titelseite von Time
Alice Neel
Magazin
New York, NY, 1970
Affekt: Freude
Kate Millett (1934-2017) war eine bahnbrechende Feministin, Autorin und bildende Künstlerin, deren Forschung und Interessen die feministische Bewegung der 1970er Jahre („second-wave-feminism”) stark beeinflusst haben. Ihr wegweisender Text „Sexual Politics” (1970), der als erstes Buch akademischer feministischer Literaturkritik gilt, wurde zu einem internationalen Bestseller und Grundlagenwerk für eine ganze Generation von Feministinnen. Diese Ausgabe des Time Magazine vom August 1970 zeigt das Porträt einer unerschütterlichen Millett, gemalt von Alice Neel. Die Titelgeschichte greift die wichtigsten Aspekte von Millett heraus und fragt, wie sie in einem zeitgenössischen Zusammenhang funktionieren. Das Buch wird gelobt und als schlüssige Analyse der feministischen Bewegung beschrieben. Eindringlich fängt der Artikel die Wut und Frustration von Frauen ein, die sich von patriarchalen Institutionen emanzipieren wollen. Auf dem Cover der Time-Magazine-Ausgabe tritt der Blick von Millett den Betrachtenden entgegen und durchdringt sie. Er lässt uns wissen, dass sie eine selbstbewusste Frau ist, die die Mission hat, das Patriarchat niederzureißen. Zwei Kunstwerke von Kate Millett sind in dieser Ausstellungen Objekt 40. Millett starb am 6. Juni 2017 in Paris, kurz vor ihrem 83. Geburtstag.
60. Sammelalbum über Trans* Frauen
(Sammlung)
Collagierte Zeitungsausschnitte
Berlin (West), DE, ca. 1980er Jahre
Affekt: Freude
Dieser Ordner voller Zeitungsausschnitte über Trans* Frauen wurde dem Archiv des Museums 2008 von einer Spenderin geschenkt, die anonym bleiben wollte; sie bat das Museum, unter dem Namen „Rebro” auf sie und ihre Sammlung hinzuweisen. Später, im Jahr 2013, spendete sie zusätzliches Material, das ihren Vornamen Rita enthielt. Rita, die selbst Trans* war, sammelte in Dutzenden von Ordnern wie diesem Zeitungsausschnitte, Fotos, Beschreibungen von Fernsehsendungen, Essays und anderes veröffentlichtes Material über Transgender Themen auf der ganzen Welt. Das Sammeln solcher Existenzbeweise – die Entstehung dieser Archive, die Gegengeschichten und Gegenerzählungen dokumentieren – ist seit langem eine Strategie für das Überleben von Queers. „Verkörperung”, schreibt die Transgender-Historikerin Susan Stryker, „jene kontingente Leistung, durch die die Geschichten unserer Identitäten in unseren körperlichen Raum investiert werden, belebt nicht nur die Forschungsfrage, sondern moduliert den Zugang zum Archiv sowohl in seiner physischen als auch in seiner intellektuellen Anordnung”. Trans* Geschichten sind in den Sammlungen des Schwules Museums nach wie vor unterrepräsentiert und oftmals falsch dargestellt, wie in der Bewegung insgesamt; wir sind ethisch dazu verpflichtet, diese historischen Gewalttätigkeiten innerhalb unserer eigenen Bewegung zu korrigieren.
61. Silbersteinstraße-Serie
Petra Gall
Silber-Gelatine-Druck
Berlin (West), DE, 1983
Affekt: Angst
In der Nacht vom 24. November 1983 wird Susanne Matthes in der Silbersteinstraße in Neukölln vergewaltigt und ermordet. Den Abend vor ihrer Ermordung verbringt sie in der Lesbendisco „Die 2”. Die Frauenzeitung „Courage” beschreibt Susanne Matthes als „Feministin und Friedensengagierte, mit dem Verteidigungssport Karate vertraut und für nächtliche Taxifahrten zu arm”. Susanne Matthes ist zum Zeitpunkt ihrer Ermordung 22 Jahre alt. In den Reaktionen auf ihre Ermordung, insbesondere in Berlin, zeigte sich die Politisierung einer ganzen Generation von feministischen Frauen und Lesben. Seit den 70er Jahren haben die Aktivistinnen der zweiten Frauenbewegung Ausmaß und Alltäglichkeit von sexueller Gewalt gegen Frauen zum zentralen Thema feministischer Kämpfe gemacht. In diesem Kontext führt die Ermordung von Susanne Matthes zu einer massiven Mobilisierung. In der Woche nach dem Mord finden in Neukölln permanent Demonstrationen mit bis zu 4.000 Teilnehmerinnen statt. Diese Demonstrationen und andere Aktionen brachten nicht nur die Wut über die allgegenwärtige Gewalt gegen Frauen zum Ausdruck, sondern auch die Empörung über die sexistische Berichterstattung über den Fall und die damit verbundene Verharmlosung von Gewalt gegen Frauen. Petra Gall dokumentierte in dieser Fotoserie Graffiti in der Silbersteinstraße und am dortigen Tatort, einem Spielplatz. Der gleichaltrige Mörder von Susanne Matthes, Thomas R., wurde 1995 zufällig gefasst. Erst dann stellte sich heraus, dass R. in der Silbersteinstraße wohnte und ein Serienmörder war, der dort seine ersten beiden Morde beging. Einen Monat vor dem Mord an Susanne Matthes ermordete R. seine Vermieterin, und bis Ende 1983 noch zwei weitere Frauen in Berlin. Einen Zusammenhang stellte die Polizei damals nicht her. Siehe auch Objekt 5.
62. Untersuchung eines versuchten, rechtswidrigen Grenzübertritts / Verdachtsprüfung eines versuchten, ungesetzlichen Grenzübertritts
(Sammlung)
Dokumente
Berlin (Ost), DE, 1979-1984
Affekt: Angst
Frank S. wurde im Mai 1964 in Calbe/Saale in der DDR geboren. Nachdem er die Ausbildung zum Maurer in Schönebeck abgebrochen hatte, begann er für die ostdeutsche Post zu arbeiten. Im Oktober 1982 wurde er wegen „Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten” zu acht Monaten Haft verurteilt. Nach seiner Inhaftierung arbeitete er in einer Lederfabrik und begann, die Freistellung von seiner Staatsbürgerschaft und eine Genehmigung zur Einreise in den Westen zu beantragen. 1985 wurden seine Visakosten von der Regierung der Bundesrepublik Deutschland (Westdeutschland) übernommen, die diese teilweise für bedrohte Menschen in der DDR bezahlte, und er ließ sich am 1. November 1985 in West-Berlin nieder. Er starb 1998 an einer AIDS-bedingten Krankheit. Die hier erhaltenen Dokumente stammen aus einer fünf Jahre laufenden Stasi-Akte, in der die Ermittlungen zu seinen mutmaßlichen Versuchen, die Grenze zu überschreiten und sich im Westen niederzulassen, dokumentiert sind.
63. Rundbrief der „Indianerkommune”
(Thematische Sammlung)
Bedrucktes Papier
Nürnberg, DE, 1980
Affekt: Angst
Die „Indianerkommune” war eines der öffentlich sichtbarsten Elemente der deutschen Pädophilenbewegung der 1970er und 1980er Jahre. Die angeblich freie Kinderkommune unter der Leitung des „Indianerhäuptlings” Ulrich „Uli” Reschke (die Ikonographie war Teil einer langen und rassistischen Tradition der Deutschen, amerikanische Ureinwohner zu imitieren) machte durch Hungerstreiks, Proteste und Störungen bei Veranstaltungen der Schwulenbewegung, bei Bildungskonferenzen sowie schließlich auch durch die Besetzung der Bundesgeschäftsstelle der Grünen und der Büros der taz auf sich aufmerksam. Ihre Forderungen waren die Abschaffung der Schulpflicht und die Legalisierung pädosexueller Beziehungen. Nicht zuletzt ging es oft darum, ihre Anführer aus rechtlichen Schwierigkeiten wegen des Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen zu holen. Tatsächlich war die so genannte „Kommune” autoritär und übte eine starke Kontrolle aus. Sie nahm vor allem junge Menschen auf, die auf der Straße oder in Heimen lebten, nachdem sie von ihren Familien zuhause geflohen waren, in denen sie ebenfalls Gewalt erlitten hatten. Viele von ihnen hatten kaum Alternativen. Aus komplexen historischen Gründen, z.B. der Kriminalisierung von Homosexuellen und Pädophilen im deutschen Gesetzbuch, gab es innerhalb der deutschen Bewegungen für homosexuelle Emanzipation historisch gesehen eine große Beteiligung von Mitgliedern der pädophilen Bewegungen und eine Verbindung zu ihren Forderungen und Kulturen.
64. Enchanted
Marc Almond (Cover Foto von Pierre et Gilles, zweites Modell auf dem Cover Zuleika)
Schallplatte
London, GB, 1981
Affekt: Freude
Soft Cells „Tainted Love” von 1981 – ein Nummer-1-Hit in Deutschland und Großbritannien – leitete ein Jahrzehnt queerer Pop-Hymnen ein, die den Soundtrack zum Coming-out einer ganzen Generation lieferten. Von den schwulen Stars der 1980er war Marc Almond, der Sänger von Soft Cell, derjenige, der seine Homosexualität weder durch geglättete Lederkerl-Ästhetik (George Michael) noch durch ironische Pop-Gesten (Pet Shop Boys) Mainstream-tauglich machte, sondern die schwule Tradition von Melodrama und Exzentrik in den Mittelpunkt seiner Pop-Performanz rückte. Das Ergebnis war funkelnder Pop-Camp, der nicht nur sexy-schwul klang, sondern auch so aussah, z.B. auf diesem Cover von Almonds fünfter Solo-Platte „Enchanted” von 1990 mit dem Hit „A Lover Spurned”. Das französische Künstlerduo Pierre et Gilles, die auch Nina Hagen und Madonna porträtierten, lieferten hierfür das Motiv und zeigten Almond im Profil, neben ihm die Dragqueen Zuleika. Camp war um 1990 herum in seine klassische Phase eingetreten, die aus heutiger Perspektive längst Geschichte ist. Auch Almonds Schwulenpop hat inzwischen museale Qualitäten. Seine Konzerte finden schon mal in sakralen Räumen statt, so sollten sie eigentlich am 28. und 30. März diesen Jahres in der Kreuzberger Passionskirche stattfinden.
65. Postkarte
Claire Waldoff
Berlin, DE, 1954
Affekt: Fürsorge
Claire Waldoff (1884-1957), die Sängerin und Kabarettistin mit rauchiger Stimme, immer in Schlips und Krawatte aber mit vulgärem Habitus, wollte ursprünglich Ärztin werden. Die als Clara Wortmann in Gelsenkirchen geborene Künstlerin gab 1906 ihr Bühnendebüt in Niedersachsen. Sie machte nie ein Geheimnis aus ihrer Beziehung zu ihrer Freundin Olga von Roeder; das Paar stand in den 1920er Jahren im Zentrum des lesbischen Nachtlebens in Berlin und sorgte bei den Zusammenkünften in seinem Salon für kulturellen und politischen Austausch. Ihre Auftritte wurden von den Nazis verboten; 1942 war ihre Karriere beendet. Diese Postkarte ist ein Original, das Claire Waldoff (hier XXX im Bild) ihrer langjährigen Freundin Clara Schlücker, einer ehemaligen Sekretärin des Deutschen Theaters, im November 1954, gut zwei Jahre vor ihrem Tod, schrieb. Sie nennt darin ihre langjährige Freundin „Mausi” und erinnert sie sachte an bessere, vergangene Zeiten: „Ich denke immer noch an alles und an Dich und unser goldenes Zeitalter. Für immer deine Claire”. Die Postkarte wurde dem Schwulen Museum von Ute Wegner geschenkt, die sie im Nachlass ihres Schwiegervaters, dem Schwager von Clara Schlücker, entdeckte.
66. Private Fotosammlung
Tante E. und Tante Ruth
Schwarz-Weiß-Fotos
Norddeutschland, ca. 1950er-1980er Jahre
Affekt: Fürsorge
Homosexualität war in meiner wohlbehüteten Kindheit in einem Hamburger Außenbezirk in den 1970er Jahren anwesend und abwesend zugleich. Auch wenn nicht darüber gesprochen wurde, war sie präsent. Vor allem bei Familienfeiern. Denn dort tauchten immer zwei Frauenpaare auf. Aus ihrer Ausbildungszeit als Krankenschwester hielt meine Mutter Kontakt zu einer ehemaligen Arbeitskollegin, die nun zusammen mit einer anderen Kollegin in einer Eigentumswohnung in Buxtehude lebte. Die beiden teilten alles: Wohnung und Auto und in den Ferien machten sie gemeinsame Bus-Pauschalreisen. Was sie verband, darüber wurde nie gesprochen. Ähnlich war es bei meiner Großtante und ihrer Freundin, die man in den Fotos hier sieht. Beide wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts geboren und lebten fast ein Jahrhundert lang. Obwohl wir nur mit einer der beiden verwandt waren, wurden immer beide als „Tanten“ angesprochen – Tante E. und Tante Ruth. Das sollte irgendwie ihre Zusammengehörigkeit demonstrieren, auch wenn nie gesagt wurde, worin diese eigentlich bestand. Auch Tante E. und Tante Ruth wohnten zusammen, sie arbeiteten zusammen, sie fuhren zusammen in den Urlaub. Zum Wandern oder an die Nordsee. Sie waren Freundinnen. Erst nach ihrem Tod einigte sich die Familie darauf, dass sie eine lesbische Beziehung hatten. Ob Tante E. und Tante Ruth selbst jemals das Wort „lesbisch“ benutzt haben, weiß ich nicht. Vielleicht lagen sie sich ja kichernd und knutschend in den Armen, wenn die Familienfeiern vorbei waren. Was sie verband, sieht man an den Berührungen und Blicken in diesen Bildern. (Text: Peter Rehberg)
67. Tuntenball-Kleid
Klaus Bogiuski
Stoff, Modeschmuck, Falsche Federn, Pailleten
Berlin (West), DE, 1985
Affekt: Freude
Der „Berliner Tuntenball“ wurde 1975 gegründet und fand bis 1997 jährlich statt. Er war ein wichtiges Event für die queere Community. Bereits 1914 berichtete Magnus Hirschfeld über regelmäßig veranstaltete „Urningen-Bälle“ in Berlin mit bis zu 1000 Gästen: „Große Bälle…eine Berliner Besonderheit in ihrer Art und Größe…eine der interessantesten Sehenswürdigkeiten“, die man in der Stadt sehen könne. Diese Bälle wurden in Richard Oswalds Kinofilm Anders als die Anderen gezeigt und fanden offenbar mehrmals in der Woche statt. Während die Nationalsozialisten diese Veranstaltungen verboten, gab es den ersten Tuntenball nach dem Krieg im Jahr 1945 im Nationalhof in der Bülowstrasse, der später in „Walterchens Ballhaus“ umbenannt wurde (kulturell sind diese Bälle von den „drag balls” zu unterscheiden, die in New York City veranstaltet wurden und in der Nachkriegsära bedeutsam für people of color, die sich als queer und trans identifizierten, waren). Eine weitere Reihe von Bällen fand im Haus Thefi in der Kurfürstenstraße in Schöneberg statt. Dieses Kleid, von Klaus Bogiuski beim Berliner Tuntenball 1985 getragen, beeindruckt mit extravaganten Fransen, Federn, Perlen, Rüschen und Stickereien. Nach 23-jähriger Pause sollte am 18. April 2020 der „neue Tuntenball“ dem Nollendorfkiez wieder Glanz und Glamour geben.
68. Sonja: Eine Melancholie für Fortgeschrittene
Luise F. Pusch („Judith Offenbach“)
Buch
Berlin (West), DE, 1980
Affekt: Fürsorge
Wie verändert sich deine Wahrnehmung der Zugänglichkeit von Orten um uns herum, wenn du im Rollstuhl sitzt oder deine Freundin auf den Rollstuhl angewiesen ist?
Luise F. Pusch schrieb den autofiktionalen Roman „Sonja. Eine Melancholie für Fortgeschrittene“ ein paar Jahre nachdem sich ihre Freundin das Leben genommen hatte. Die beiden hatten sich Mitte der 1960er Jahre kennen und lieben gelernt, Sonja war wegen eines zuvor missglückten Suizidversuchs auf den Rollstuhl angewiesen. Über die eigentliche Form ihrer Beziehung zueinander ließen sie Ihre Umwelt im Unklaren. Vor ihren Kommiliton_innnen spielten sie die Rollen der Pflegebedürftigen und der persönlichen Pflegerin, die zusammen wohnen mussten.
Die minutiöse Schilderung des Alltags dieser tiefen Liebe bestimmt dieses ebenso traurige wie empowernde Werk, dass zum selbstermächtigenden Diskurs um „Krüppellesben“ beitrug. Die Geschichte einer Beziehung, die zwischen Fürsorge, Leidenschaft, Co-Dependency und Gewalt oszilliert deckt grundsätzliche Fragestellungen queeren Begehrens auf. Was bedeutet psychische und physische Able-isierung für eine Beziehung? Wie kann ich den Freitod meiner Partnerin verarbeiten, und was bedeutet queere Trauerarbeit?
69. Me absolvo
Michèle Meyer
Mixed-Media-Installation
Schweiz, 2009
Affekt: Angst
Der Beichtstuhl bietet in der Popkultur unterschiedlichste Referenzen, ob Madonna in „Like a Prayer” (1989) dort ihre Sünden bekennt, Hitchcock ihn in „Ich beichte” (1953) gar zum zentralen Handlungsort macht oder Tina in Pedro Almodóvars „Das Gesetz der Begierde“ (1987) darin ihren Pater aus dem katholischen Internat wieder trifft. Es ist der Ort der Bekenntnis, der Reinigung von den begangenen Sünden, aber auch ein intimer, erotisch aufgeladener Ort, ein klaustrophobischer Raum vergitterter Nähe.
Die Schweizer Künstlerin Michèle Meyer hat diesen Beichtstuhl geschaffen. Sie thematisiert in ihm ihre Erfahrungen als „Mutter von Teenagerinnen, Langzeitüberlebende mit 25 Jahren HIV-Aktivismus (regional bis global) in ihrem Rucksack. Clown. Trotzdem ohne Titel und mit Kompetenzen.“ Die Installation thematisiert die paradoxen Erfahrungen HIV-positiver Frauen*, zwischen Bekenntniszwang und Unsichtbarmachung. AIDS wurde in den frühen 1980er Jahren zunächst als GRID (Gay Related Immune Disease) bezeichnet und hat in der öffentlichen Wahrnehmung auch heute noch viel zu oft ein Geschlecht und eine sexuelle Orientierung.
In Meyers Installation finden wir einen gerahmten Beipackzettel ihrer HIV-Medikamente, genauso wie einen Haufen von Kuscheltieren und eine Auflistungen der sieben biblischen Todsünden. Wir als Besuchende können darin instinktiv den gesellschaftlichen Druck wahrnehmen, aber für einige Momente auch die Selbstermächtigung nachempfinden. Die Künstlerin, die ihre Arbeit als immanent politisch versteht und die auch an einem riesigen „Hungertuch“, einer Art Quilt aus gespendeten Stoffstücken näht, das sie vor Schweizer Behörden präsentierte, um gegen Kürzungen der Sozialbeiträge zu protestieren, erinnert uns mit diesem Beichtstuhl an den immensen Beitrag, den FLINT* zum HIV-Aktivismus beigetragen haben.
70. Grundriss von „Eldorado”
Manfred Baumgardt, Andreas Sternweiler, Wolfgang Theis, Manfred Herzer
Tinte auf Papier
Berlin (West), DE 1984
Affekt: Freude
Im Jahr 1984 organisierte eine Gruppe von LGBTQI Aktivist_innen und Akademiker_innen die Ausstellung „Eldorado – Homosexuelle Männer und Frauen in Berlin 1850-1950, Geschichte, Alltag und Kultur” im Berlin Museum, darunter Wolfgang Theis. Die Ausstellung zeigte die erste zusammenhängende Geschichte der Homosexualität, von ihrem Ursprung als ein medizinisches Leiden im Jahr 1864 zu ihrer Kriminalisierung bis ins Nachkriegsdeutschland. Die Ausstellung war Erfolg und Skandal zugleich. Der Name der Ausstellung bezieht sich auf den Eldorado-Nachtclub, der für seine Trans-Performer_innen und für Partys für ein schwules Publikum berühmt war. Die Ausstellung konzentrierte sich in erster Linie auf die „Goldenen Zwanziger“ oder die Zeit der Weimarer Republik in Deutschland. Sie zeigte eine Reihe von Dioramen wie in einem naturhistorischen oder ethnologischen Museum und unterteilte diese streng in schwule und lesbische Bereiche. 2017 erkundete eine Ausstellung mit dem Namen „Odarodle” („Eldorado” rückwärts buchstabiert) die problematischen Zusammenhänge zwischen der Repräsentation von Homosexualitäten von Seiten des Museums und den ethnologischen Darstellungsarten, die während des europäischen Kolonialismus entwickelt wurden. Der Erfolg der Ausstellung „Eldorado“ inspirierte die Gründung des Schwulen Museums im Jahr darauf,1985. Wolfgang Theis blieb bis zu seinem Ruhestand im Februar 2020 weiterhin als Kurator und Vorstandsmitglied aktiv.
71. Zwei Auswahlen aus der Serie „Zu Zweit“.
Alexa Vachon
Farbfotografie
Berlin, DE ca. 2010er Jahre
Affekt: Fürsorge
Auch Alexa Vachon erforscht in ihrer Fotoserie „Zu Zweit“ die Regenbogenfamilie: Sie betrachtet die Beziehungen zwischen in Berlin lebenden Menschen, die sich als queer identifizieren, und erforscht Trans-Identitäten, alternative Wege der Eltern- und Partnerbeziehung; Vachon zeigt uns Liebende, Partner, Paare, Freunde, Blutsverwandte. Diese Paarbildungen stellen die Erwartungen an queere Beziehungen und Familien in Frage. Vachon lebt und arbeitet in Berlin, wurde in Kanada geboren und in New York City ausgebildet.
72. Regenbogen-Familie
Katharina Mouratidi
Silber-Gelatine-Druck
Berlin, DE ca. 1980er Jahre
Affekt: Fürsorge
Katharina Mouratidi ist Kuratorin, Fotografin und Dozentin. Seit 2008 ist sie künstlerische Leiterin und Geschäftsführerin der in Berlin ansässigen Gesellschaft für humanistische Fotografie, die gesellschaftsrelevante und engagierte Fotografie fördert. Auch dieses Werk fällt in diese Kategorie: Es zeigt eine so genannte „Regenbogenfamilie“, zwei Mütter, die zusammen ein Kind großziehen. Stellen Regenbogenfamilien den Familienbegriff selbst in Frage und laden zu neuen utopischen Perspektiven außerhalb der Gewalttätigkeiten und Normativitäten traditioneller heteronormativer Strukturen ein? Oder verstärken sie stattdessen die sogenannte Homonormativitäta, in der monogame queere Paare (vorzugsweise mit Kindern) als sozial akzeptabel privilegiert werden? Lösen sich diese kritischen theoretischen Fragen auf, wenn sie mit individuellen Lebenswelten in Berührung kommen? Was können Queers aus der Familie machen?
73. Die Männer welche Liebe fühlen
Künstler*in: Unbekannt
Bleisatz
Unbekannt, wahrscheinlich vor 1890
Affekt: Freude
Dieses Foto wurde dem Schwulen Museum mit nur wenigen Informationen zu seinem Kontext übergeben. Sicher ist aber, dass es sich hierbei um eine sogenannte Ferrotypie, also um eine Bleisatz-Fotografie handelt, einem fotografischen Verfahren, bei dem ein direktes Positiv auf einem dünnen Eisenblech erzeugt wird. Die in den 1860er und 1870er Jahren beliebten Ferrotypien waren eines der frühesten Beispiele für einen „Sofortdruck” (ähnlich einem Polaroid), da sie entwickelt und nach nur wenigen Minuten ohne Trocknen an einen Kunden übergeben werden konnten: Sie waren im Gegensatz zu ihrem Vorgänger, der Daguerrotypie, leicht herzustellen, zu vertreiben und mit sich herumzutragen. Dieses Bild zeigt drei Männer beim Rauchen und Posieren in einem Raum, der anscheinend ein Atelier ist. Die Männer sitzen bequem und in unmittelbarer Nähe zueinander. Sind sie schwul? Warum spricht das Foto von ihrer Liebe? Immer schon, also auch in einer Welt vor der Erfindung von Begriffen wie Heterosexualität, Homosexualität oder sogar Sexualität, pflegten Männer sowie Frauen untereinander intime Freundschaften, die sie auf vielfältige Weise benannten, definierten und verteidigten. Sicher ist, dass die Männer in dieser Fotografie so wichtig füreinander waren, dass sie hier posierten und ihre Beziehung dokumentieren wollten. Der Titel scheint eine Anspielung auf eine Arie über den edlen Charakter romantischer Liebe aus Mozarts „Die Zauberflöte” zu sein.
74. Postkarte
(Sammlung Sternweiler)
Vesta Tilley
Farbdruck
London, GB, ca. 1910er Jahre
Affekt: Freude
Travestie hat eine lange Tradition in der Geschichte des Theaters, von der Antike bis zu RuPaul. Seit Ende des 19. Jahrhunderts hat es sich zu einem eigenständigen Genre entwickelt. In den 1920er Jahren waren weibliche und männliche Imitatoren gefeierte Stars auf den Varietébühnen und in ihren eigenen Theatern. Travestie offenbart die Konstruiertheit des Geschlechts. Die Engländerin Vesta Tiley (1864-1952) war eine der erfolgreichsten männlichen Imitatorinnen – heute bezeichnen sich Drag-Interpreten, die männliche Rollen spielen, oft als ‘drag kings’ – ihrer Zeit. Sie wurde als Matilda Alice Powles in eine Familie von Theaterschauspielern geboren und trat schon in ihrer Kindheit in männlichen Rollen auf. Ihre Auftritte waren sarkastisch und lustig, was sie bei Männern aus der Arbeiterklasse beliebt machte, aber auch bei Frauen, die sie als Symbol der Unabhängigkeit verstanden. Sie zog im ganzen Vereinigten Königreich ein großes Publikum an. Während männlich-imitierende Travestie eine tiefe historische und zeitgenössische Verbindung zu lesbischen und transmaskulinen Bewegungen und Ästhetik hat, unterstreicht Vestas Privatleben die Schwierigkeit, zeitgenössische Vermutungen auf historische Figuren zu übertragen: Sie war mit einem Mann verheiratet, glamourös gekleidet hinter der Bühne und beendete ihre Karriere, um Platz für die politischen Bestrebungen ihres Mannes zu schaffen.
75. Zwei Freund*innen beim Kartenspielen
Künstler*in unbekannt
Silber-Gelatine-Druck
Berlin, DE, 1927-28
Affekt: Freude
Dieses Foto, aufgenommen von einem oder einer Unbekannten, zeigt zwei Freund*innen beim Kartenspielen. Auf der Rückseite des Drucks steht „Winter 1927-1928 – Friedel … “ und daher stammt auch die Datierung unseres Objekts. Eine der beiden Personen trägt stereotypische Männerkleidung, die andere stereotypische Frauenkleidung. In den 20er Jahren gab es in Berlin eine vielfältige lesbische Barkultur. Zu den Selbstbezeichnungen in der Szene gehörte hier z.B. „KV“ („Kesser Vater“) oder auch „Mädi“, „Mädel“ oder „Dame“. Vielleicht führte eine der Freund*innen aber auch ein „Transvestiten-Zertifikat“ mit sich, das von der Berliner Polizei unter der Leitung von Magnus Hirschfeld ausgestellt wurde.
76. Zwei Fotos mit Hunden
(Sammlung)
Fotografien (eine davon vergrößert und koloriert)
Berlin (Ost), DE, ca. 1960er Jahre
Affekt: Fürsorge
„Tommy“, so nannte sich Rita Thomas, Hundefriseurin und Zeitzeugin queeren Lebens in Ost-Berlin, seit Teenagerzeiten. Geboren 1931, verbrachte sie ihr gesamtes Leben im Osten Berlins, zunächst in Weissensee, dann in Friedrichshain. Seit den Fünfzigerjahren bis zu ihrem Tod 2018 war sie mit ihrer Freundin Helli zusammen. In ihrer eleganten bis sportlichen Herrenkleidung und Kurzhaarfrisur war Tommy der Prototyp eines „Bubi“, wie männlich auftretende lesbische Frauen im Deutschen seit der Wende zum 20. Jahrhundert genannt wurden.
Tiere spielten in Tommys Leben eine wichtige Rolle. Neben ihrer Arbeit in einem Hundesalon in Friedrichshain dressierte sie auch Hunde für Film und Theater. In ihrem Schrebergarten hielten Tommy und Helli darüber hinaus auch Hühner und Enten.
An der Oberbaumbrücke, vor der Tommy hier mit Riesenpudel posiert, erlebte sie die Teilung Berlins. Am 13. August 1961 frühmorgens war sie auf dem Nachhauseweg von einer Kneipentour in Kreuzberg, als ein West-Berliner Polizist sie warnte, wenn sie jetzt die Brücke überquere, könne sie nicht mehr zurück. Der Mauerbau bedeutete für queere Ostberliner*innen, dass sie von heute auf morgen von der West-Berliner Subkultur abgeschnitten waren. Dieser Verlust war für die regelmäßige Kneipengängerin Tommy schmerzlich, aber Freund_innen, Familie, Job, Garten und Tiere hielten sie in Ost-Berlin. (Text: Andrea Rottmann).
77. (1) Flyer der Aktivist_innengruppe Transsexualität – Transreality
(Sammlung Trans)
Schwarz-Weiß-Druck auf Papier
Nürnberg, DE, ca. 1990er Jahre
(2) The 10th Annual International Two Spirit Gathering
(Sammlung Trans)
Magazin
Minnesota, USA, 1997
(3) Khalass: Wir Sind Vex!
(Sammlung Trans)
Fotokopierter Flyer
Berlin, DE, 2008
Affekt: Fürsorge
Diese Flugblätter dokumentieren die sich seit Mitte der 1990er Jahre entwickelnde Bewegung für Trans Justiz innerhalb und außerhalb Deutschlands. Die Sozialwissenschaftlerin und Transgender-Aktivistin Susan Stryker beschreibt Transgender als „Menschen, die sich von dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde, lossagen; Menschen, die die von ihrer Kultur errichteten Grenzen, mit denen ihr Geschlecht definiert und eingehegt wird, überschreiten”. Mit dieser Definition lassen sich eine Vielfalt historisch und geografisch spezifischer Bewegungen und Identitäten als Teil einer fortlaufenden Bewegung begreifen. Stryker bezeichnet den Transgender-Aktivismus nach 1990 als die „aktuelle Welle” (current wave), in der viele der gängigen Begriffe und Identitätsformen zeitgenössischer Transerfahrung erkämpft und entwickelt wurden.
Das Flugblatt „Transrealität” wirbt für eine Selbsthilfegruppe für „Transsexuelle” (damals der bevorzugte Begriff dieser Gruppe) in Nürnberg in den 1990er Jahren. Diese bietet eine Vielzahl von Selbsthilfeangeboten an, darunter die Begegnung mit anderen Menschen mit Transerfahrung, Hilfe beim Coming-out sowie Beratung und Unterstützung beim Umgang mit rechtlich und medizinischem Gatekeeping. Während die Änderung des Vornamens und des Personenstands in Westdeutschland seit 1980 legal ist, war bis 2011 hierfür eine chirurgische Operation zur Geschlechtsanpassung erforderlich, die sich nicht alle Transmenschen leisten können oder wollen. Die Kontrolle durch juristische und medizinische Institutionen ist nach wie vor ein wichtiger Kampfschauplatz der Gleichstellungs- und Gerechtigkeitsbewegungen von Transmenschen weltweit.
Während der Aktivismus von Transpeople of Color, insbesondere durch Black Indigenous People of Color (BIPOC), in den letzten Jahren auch außerhalb dieser Bewegungen sichtbarer geworden ist, ist diese Arbeit tatsächlich schon seit vielen Jahren im Gange und war für die Kämpfe der LGBTIQ-Bewegung oft von zentraler Bedeutung, auch wenn die spezifischen Beiträge der BIPOC oft zum Schweigen gebracht oder ignoriert wurden. „Two-Spirit” ist ein seit den 1990ern gängiger Begriff, der von manchen indigenen Nordamerikaner_innen verwendet wird, um die Einheimischen (natives) in ihren Communities zu beschreiben, die traditionell alternative Gender-Rollen oder die Rolle eines dritten Geschlecht erfüllen. Imperialistische LGBT-Bewegungen und Siedler-LGBT-Bewegungen haben das anthropologische und ethnographische Archiv kolonisierter und subalterner Menschen schon lange zum Zweck ihrer Identitätsbildung ausgebeutet; „Two-Spirit” ist für indigene Menschen ein Begriff des Widerstands und der Reappropriation.
Auch wenn einige weiße Deutsche versuchen, Rassismus gegen Schwarze und andere Formen des Rassismus als etwas zu definieren, was der deutschen Erfahrung und dem Leben in Deutschland äußerlich sei, sind diese Rassismen Teil des Alltags von queer, trans, und inter People of Color in Deutschland. In diesem Flyer von 2008 protestierte eine Gruppe von QTBIPOC gegen den orientalisierenden Blick weißer Queers.
78. The Femme Mirror
Hrsg. Carol Beecroft
Magazin
Houston, USA, 1986
Affekt: Fürsorge
The Femme Mirror zusammen mit seiner bekannteren Schwesterpublikation Transvestia war Teil eines Booms kleiner und unabhängiger Publikationen in den Vereinigten Staaten, der in den 1960er und 1970er Jahren durch eine Senkung der Druck- und Verlagskosten sowie eine gelockerte Zensur angeheizt wurde. Transvestia erschien seit den 1960er Jahren und wurde von Virginia Prince (1912-2009) herausgegeben, The Femme Mirror in den 1970er Jahren von Carol Beecroft; die beiden fusionierten ihre Organisationen in der „Society for the Second Self”, kurz „Tri-Ess”. Die beiden Zeitschriften lehnten die damals vorherrschenden Theorien, dass Cross-Dressing entweder lediglich ein sexuelles Spiel oder aber eine Form von psychischer Störung sei, ab. Wie die homophilen Zeitschriften der 1950er Jahre, denen sie ähnelten, schlossen sie sexuelle Inhalte aus und konzentrierten sich auf soziale Kommentare, pädagogisches Material, Ratschläge zur Selbsthilfe und autobiographische Vignetten. Die Transaktivistin und Sozialwissenschaftlerin Susan Stryker bescheinigt diesen Zeitschriften, dass sie „die politische Bedeutung des Transvestitismus [der damals verwendete Begriff] deutlich verschoben haben”. Die Magazine waren umstritten, weil sie konventionelle gesellschaftliche Normen und traditionelle Geschlechterstereotypen unterstützen. Sie schlossen damit diejenigen aus, die sie „homosexuelle Transvestiten”, „Transsexuelle” und „Street Queens” nannten – und die wir heute als heterosexuelle Transfrauen bezeichnen könnten, Transfrauen, die geschlechtsangleichende Operationen durchgeführt haben und Transfrauen, vor allem Transwomen of color, die obdachlos sind oder Sexarbeit leisten. Die Organisation Tri-Ess ist bis heute aktiv und beschreibt sich selbst als eine Gruppe für „heterosexuelle Cross-Dresser”, die jedoch lieber das Pronomen „sie” (also „she” und nicht „they”, wie im Amerikanischen möglich) und eindeutig weibliche Eigennamen verwenden.
79. Lesbian Herstory Archives Newsletter, Nr. 2
Papierdokument
New York, USA, 1976
Affekt: Fürsorge
Die „Lesbian Herstory Archives”, heute die weltweit größte Sammlung, die sich der Bewahrung lesbischer Geschichte und Kultur widmet (und zu dem auch ein Community Center und ein Museum gehören), wurde 1974 von lesbischen Mitgliedern der Gay Academic Union gegründet, die eine Diskussionsgruppe zum Sexismus innerhalb der Organisation initiiert hatten. Die Mitbegründerinnen – Joan Nestle, Mabel Hampton, Deborah Edel, Sahli Cavallo, Pamela Oline und Julia Penelope Stanley – begannen in Nestles Apartment auf der Upper West Side in New York Bücher, persönliche Unterlagen und andere historische Materialien über Lesben und lesbische Organisationen zu sammeln, bevor sie 1990 an ihren derzeitigen Standort in Brooklyn umzogen. Die Institution leistet in der integrativen, nicht-hierarchischen Archivierungspraxis seit langem Pionierarbeit, und befindet sich im Austausch mit Institutionen wie dem One-Archiv in Los Angeles, dem Schwulen Museum und unseren Schwesterarchiven hier in Berlin, dem Spinnboden und dem FFBIZ. Dieser Rundbrief, der erstmals nach der Öffnung des Archivs verschickt wurde, beschreibt einige der Neuerwerbungen und gibt einen Eindruck davon, wie es gewesen sein muss, diesen Ort 1976 zu besuchen – Besucher_innen erfahren, dass sie hier ein Empfang mit Kaffee und Snacks und einem freundlichen Hund erwartet, dass sich ein Besuch des Archivs nicht nur bei einem Forschungsinteresse lohnt sondern z.B. auch für die Vorbereitung eines Rechtsstreits, um die jüngste politische Theorie im lesbischen und sozialistischen Feminismus kennenzulernen, oder um die eigene Präsenz in der „lebendigen, wachsenden” Gemeinschaft von Lesben zu affirmieren.
80. Rundherum: Das Abenteuer einer Weltreise
Erika und Klaus Mann
Buch
Berlin, DE, 1929
Affekt: Angst
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Westdeutschland und Ostdeutschland niederschmetternd provinziell. Die Deutschen hatten ihre kulturelle und wissenschaftliche Elite umgebracht oder aus Europa vertrieben. Auch die queere Szene brauchte Jahrzehnte, um diesen Kulturbruch einigermaßen hinter sich zu lassen. Wie kosmopolitisch das Leben von Lesben und Schwulen in Deutschland schon einmal gewesen ist, dafür sind Erika (1905–1969) und Klaus Mann (1906–1949) ein beeindruckendes Beispiel – viel mehr noch als ihr berühmter Vater Thomas. Denn dieser hatte noch gezögert, den Bruch mit Nazi-Deutschland zu vollziehen, als seine Kinder schon längst dabei waren, die Welt darüber aufzuklären, was gerade in Deutschland geschieht. „Rundherum” ist das Ergebnis einer Weltreise, die die Mann-Geschwister unternahmen, noch bevor Hitler zum Reichskanzler gewählt wurde. 1929 zum ersten Mal erschienen – und diese Erstausgabe ist hier zu sehen – ist es das Dokument eines weltoffenen Deutschlands.
81. Shorts aus Jeansstoff und Brief
Charlotte von Mahlsdorf
Stoff, Papier
Berlin (Ost), DE, ca. 1970er Jahre
Affekt: Freude
„Eines will ich euch erzählen: Ich holte meine Sammlung an kurzen Hosen aus dem Schrank – Cordsamthose, Nietenhose, Jeanshose, Badehose, Lederhose – und breitete sie auf dem Bett aus, während er auf Zettelchen Nummern von 1 bis 6 schrieb, die er den verschiedenen Hosen zuordnete. Die nächste Zettelsammlung war bestimmt für die verschiedenen Zuchtinstrumente – dünner Rohrstock, dicker Rohrstock, Rute, Peitsche, Siebenstriemer. Mit zwei Würfeln knobelten wir Zuchtinstrument und Hose aus. Dann multiplizierten wir die beiden Zahlen miteinander: Das Ergebnis legte die Anzahl der Schläge fest, die er mir oder ich ihm verpaßte. Wobei mir der passive Part immer lieber war, wohl auch mehr meinem Wesen entspricht.“
Dieses Spiel spielte Charlotte mit ihrem Freund Jochen, den sie über eine an die Wand gekritzelte Beschreibung auf einer öffentlichen Toilette kennenlernte: „Freund, 47, sucht Freund für gegenseitige Hiebe mit Rohrstock, Rute oder Peitsche. Bitte hier anschreiben“. Die beiden blieben fast dreißig Jahre zusammen. Ihre Sicht auf Liebe, Beziehung und Freundschaft entspricht ihrem unkonventionellen, offenen, Verständnis von Geschlecht, Selbstdarstellung und Sexualität. Es steht in einem faszinierenden Spannungsverhältnis zu ihrer Reinszenierung kaiserzeitlichen Dekors.
Charlotte von Mahlsdorf sah sich selbst als „Transvestit, ein weibliches Wesen in einem männlichen Körper“ und als Masochistin. Sowohl ihrer Trans* Identität als auch ihrer Freude an Kink war sie sich schon im Jugendalter bewusst. Seit dem Kriegsende trug sie in der Öffentlichkeit auch im Alltag Kleid. Herbert von Zitzenau „Herrenreiter mit Villa in Karlshorst“, Offizier des ersten Weltkrieges, war ihr erster richtiger Playpartner. Zum Zeitpunkt ihres Kennenlernens war er bereits ein älterer Herr. Sie begleitete ihn bis zu seinem Tod 1957. Das Begehren älteren Männern gegenüber, ebenso wie Rollenspiele und die Fähigkeit, heteronormative Erwartungshaltungen zu zerschreddern, blieben ihr Leben lang prägend.
82. Mixkiste
Diverse unsortierte Materialien aus der Sammlung des Schwulen Museums
Affekt: Fürsorge
Wo kommen eigentlich die Sachen hin, die für das Archiv im Museum abgegeben werden? Party-Flyer, Veranstaltungs-Poster, Einladungen zu queeren Tagungen, die täglich bei uns im Postfach stecken, oder im Café auf den Tresen gelegt werden? Die Antwort lautet: Sie landen in einer Mixkiste! Die Mixkiste ist der erste Aufbewahrungsort der meisten Archivgüter. Grob wird hier nach Themen wie „SMU“, „International“ oder „AIDS“ vorsortiert, bis sich eine oder einer unserer Ehrenamtlichen oder Praktikant_innen an die Arbeit macht und das Material in unsere sogenannte „thematischen Sammlung“ einsortiert. Diese hat 13 übergeordnete Kategorien (z.B. „Personen“, „Körperschaften“, „Städte“) und ca. 10.000 verschiedene Stichworte. Von der Mixkiste wandert das Material dann in der Regel erstmal in einen Umschlag in einem Hängeregister; schwillt dieser an, wird daraus wiederum eine Kiste, bis es nach und nach mehrere Kisten zu einem Stichwort gibt, die dann eines Tages mit einer eigenen Systematik detailliert aufgearbeitet werden wollen. So verläuft der Weg eines Objekts von der Mixkiste bis zum aufgearbeiteten Bestand, in dem dann von Nutzer_innen recheriert werden kann. Aber in der Zwischenzeit ist schon die nächste Mixkiste voll und die Arbeit kann von vorne beginnen.
83. Bartfrau
Tabea Blumenschein
Öl auf Leinwand
Berlin, DE, 1992
Affekt: Freude
Tabea Blumenschein (1952 – 2020) war eine bekannte Malerin, Schauspielerin, Filmemacherin, Kostümdesignerin und Musikerin, die vor allem während der 1970er und 1980er Jahre tätig war. Sie war Mitglied von „Die tödliche Doris“, einer Punkgruppe innerhalb der Berliner „Geniale Dilletanten“-Bewegung, die mit radikaler und avantgardistischer Musik und Kunst experimentierte. Die Künstlerin malte zahllose Frauenporträts. In „Bartfrau“ zeigt uns Tabea Blumenschein eine bärtige Frau, die von lebhafter Ikonografie umgeben ist. Schlangen dienen als Symbol der Stärke und Erneuerung. Die Frau in dem Bild erhält die Qualität einer freudigen Göttin oder eines Gottes. Blumenschein blieb auch in den 1990ern und 2000ern künstlerisch aktiv. Während sie einen Job in der Amerika-Gedenk-Bibliothek hatte, machte sie weiterhin Kunst, insbesondere mit Wolfgang Müller, auch einem Bandmitglied der Tödlichen Doris. Im Februar 2020 verstarb Tabea Blumenschein.
84., 85., 86. Fotografie und Interieur Ellis Bier Bar: Lampe, Stühle und Pokal
Detlev Pusch
Schwarz-Weiß-Foto
Berlin (West), DE, ca. 1978/79
Künslter*in: Unbekannt
Foto, Holz, Metall, Glas, Stoff
Berlin (West), DE, ca. 1950er Jahre
Affekt: Freude
„Es gab kaum eine Kneipe in Berlin, die länger existierte und kaum eine, über die bis heute so viele Mythen und Gerüchte im Umlauf sind wie über Ellis Bar.“ (Aus: Von anderen Ufern: Geschichte der Berliner Lesben und Schwulen in Kreuzberg und Friedrichshain. Hg. vom Verein zur Erforschung und Darstellung der Geschichte Kreuzbergs, Redaktion Dr. Jens Dobler)
Elisabeth Hartung (geb. 1902) eröffnete 1946 Ellis Bierbar in der Skalitzer Straße 102 als Lesben- und Schwulenkneipe. (Ursprünglich war diese Kneipe von ihrer Mutter 1912 geöffnet worden.) Da Hartung als glühende Nazianhängerin nach dem 2. Weltkrieg keine Schanklizenz bekam, meldete sie den Laden auf den Namen ihrer Freundin an. Die Geschichte der Bar erzählt von queeren Allianzen, den Gerüchten und Mythen, die in der queeren Geschichte entstehen und von der Bedeutung der Kneipe als Vernetzungs- und Schutzraum in Zeiten von §175. In den 1960er Jahren wurde Ellis Bierbar zu einem Treffpunkt für Lederkerle. Sie gilt als Deutschlands erste Lederbar. Eli selber war ein Ledertyp. Mit der Kneipe hat sie viel Geld gemacht, sie fuhr große Autos und war eine Waffennärrin.
Ellis Bierbar war auch ein Ort von Sex-Work und eine Bühne für Dragshows. Zu den berühmten Stammgästen gehörten der Schauspieler Curd Jürgens, der Schriftsteller Günther Grass, die Sänger_innen Hildegard Knef, Udo Lindenberg und Marianne Rosenberg. Die Bar steht damit für ein glamouröses und enigmatisches queeres Gestern. Sie war die Zielscheibe regelmäßiger Polizeirazzien, „Mit Abstand ist dieses Lokal das dreckigste unter den Verkehrslokalen der Homosexuellen“, so ein Polizist in den 1960ern. Ihren berühmten Gästen half Elli dabei durch die Hintertür zu entkommen.
Rosa von Praunheim verewigte Ellis Bier Bar 1971 in „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“. Der Film, der ansonsten negativ über schwule Kneipenkultur spricht, beschreibt die Kneipe als einen inklusiven Ort. „Arbeiter und ältere Schwule, die in den pisseleganten Schwulenläden nicht geduldet werden, fühlen sich hier zuhause, wo sie wie eine große Familie zusammensitzen und in hektischer Fröhlichkeit ihre Einsamkeit zu vergessen suchen.“ Für den Protagonisten des Films ist dieser Ort schließlich das Sprungbrett zur revolutionären Wohngemeinschaft, beziehungsweise, zu queerem Aktivismus.
Diese Lampe, die Stühle und der Pokal waren Teil des Interieurs dieser Bar voller Widersprüche.
Charlotte von Mahlsdorf, die uns vom Bild gegenüber anlächelt, war hier übrigens in den 1950er Jahren, vor dem Mauerbau, Stammgast.
87. Manfred
Herbert Tobias
Schwarz-Weiß-Fotografie
1957
Affekt: Freude
Junge Männer in ihren Schlafzimmern. Intime Szenen, zu denen der Fotograf Zugang hatte. Fast könnte man denken, die Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Herbert Tobias (1924-1982) gehören zu jenen post-pornografischen Fotos der 2000er, die pornografischen Hochglanz mit alltäglichen Perspektiven auf den nackten Männerkörper ersetzten. Wären da nicht die hochgeschlossene Unterwäsche und vor allem der Plattenspieler, die die Aufnahmen unzweifelhaft als Dokument im Nachkriegsdeutschland markieren. Aber Tobias‘ Aufnahmen nehmen jene Ästhetik des Privaten und Verletzlichen vorweg, die nicht immer zwangsläufig die Darstellungen schwuler Männer bestimmen. Wie auch in den 2000ern sind sie bei Tobias – der zwischen Hamburg, Paris und Berlin lebte und hauptsächlich als Modefotograf sein Geld verdiente – aus Freundschaftsnetzwerken und einem Lebensgefühl neu entdeckter Freiheiten heraus entstanden. Die Bilder zeigen auch, dass sich die LGBTQI-Geschichte nicht schematisch auf die Erzählung von einer Zeit vor Stonewall und der Zeit danach reduzieren lässt. Allen gesellschaftlichen und rechtlichen Unterschieden zum Trotz gab es auch in den 1950ern unter Lesben und Schwulen Optimismus und Leichtigkeit (siehe auch Objekt 55).
88. Tilly and Camelia
Annette Frick
Silber-Gelatine-Druck
Berlin, DE, ca. 1980er Jahre
Affekt: Freude
Über viele Jahre hinweg dokumentierte die Fotografin Annette Frick mit Leidenschaft und Sorgfalt das Berliner Underground-Nachtleben. Mit einem besonderen Auge für die Unterschiede zwischen der lesbischen und der schwulen Szene – insbesondere der der Travestie- und Bühnenszene – fotografiert Frick einerseits große Veranstaltungen wie die Teddy Award Gala auf der Berlinale und widmet andererseits kleinen, weniger kommerziellen Events besondere Aufmerksamkeit, wie zum Beispiel Manufacturers, dem jährlich stattfindenden lesbisch-feministischen Kulturfestival in Friedrichshain. Wo auch immer sie arbeitet, fängt sie genau jene flüchtigen, kurzlebigen, schnell vorüber gehenden Momente ein, die dann sichtbar werden, wenn Punks oder Performer in ihre Rollen schlüpfen – oder sie hinter sich lassen. Siehe auch Objekt 9.
89. Fotografie von Charlotte von Mahlsdorf vor Gründerzeitschrankwand
(Sammlung)
Farbfoto
Berlin, DE, 1991
Affekt: Fürsorge
Charlotte von Mahlsdorf (1928-2002), die sich seit ihrer Jugend als Hausmädchen des späten 19. Jahrhunderts verstand, arbeitete schon während der Schulzeit bei einem Berliner Trödelladen, dessen Keller ihr auch während der letzten Tage des zweiten Weltkrieges Schutz bot. Sie selbst führte diese Leidenschaft auf Kindheitserinnerungen im Haus ihres Großonkels zurück, in welchem sie sich immer geborgen fühlte. Am liebsten staubwischend und mit Schürze.
Der ebenso aufwändige wie schwere Hausrat der Gründerzeit war im Nachkriegsdeutschland, in West wie Ost, das von einer Moderne des „Todes des Ornaments” (Adolf Loos) geprägt war, extrem unbeliebt. So konnte Charlotte viele komplette Wohnungseinrichtungen sammeln. Sie sagte: „Aber für Gründerzeitmöbel entwickelte ich schnell einen sechsten Sinn. Säulen, gedrechselte Füße, hier noch ein Holzkügelchen und da noch eins – ich war hin und weg! Damals war eine gute Zeit zum Sammeln von Gründerzeitmöbeln. Den Leuten waren ‚Staubfänger’ wie Muschelaufsätze und verzierte Türmchen lästig geworden. Man richtete, wenn man es sich leisten konnte, ‚modern’ ein, zerhackte die alten Möbel und warf die Kleinteile in den Ofen.“
Charlotte erwarb eine Gutshofruine am Berliner Stadtrand, die sie größtenteils alleine restaurierte und zu einem privaten Museum ausbaute. Durch ihr Engagement für queere Selbstorganisation in der DDR wurde dieses Museum im Laufe der 1970er Jahre ein Treffpunkt für Aktivist_innen. Der DDR-Führung war Charlottes Haus ein unerwünschter Ort, und es gab mehrfache Versuche den öffentlichen Betrieb dort zu verbieten. So einmal mit der Behauptung, private Museen seien verboten, ein anderes Mal nach einer großen lesbischen Party 1978 im Garten des Museums. Das Gründerzeitmuseum Mahlsdorf existiert bis heute.
90. Sockel der Ausstellung des Papierstapelwerks „Untitled” (1988) in der NGBK, 1990
Félix González-Torres
Bemaltes Holz
New York, USA und Berlin, DE, 1988-1990
Affekt: Freude
„Untitled“ (1988), die ursprünglich auf diesem Sockel gezeigte Papierstapelarbeit, besteht aus leeren Papierblättern. Sie wurde in derselben NGBK-Ausstellung gezeigt wie „Untitled (Join)“ im vorherigen Raum der Ausstellung (Siehe Objekt 10). Dieser Sockel ist zusammen mit den Blättern im vorherigen Raum von dieser Ausstellung übrig geblieben; sie wurden dem Museum vom Künstler für seine Sammlung geschenkt. Ganz anders als die Werke selbst, bewahren und vermitteln sie in Holz und Papier die Beziehung des Museums und seiner Sammlung zum Künstler und zur ursprünglichen Ausstellung.
91, 92. Front T-Shirt und Foto
Rüdiger Trautsch
Bedrucktes T-Shirt und Schwarz-Weiß-Foto
Hamburg, DE, ca. 1980er Jahre
Affekt: Freude
Coole Clubs gab es in der alten Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung nicht nur in West-Berlin. Anfang der 1980er öffnete in Hamburg ein Laden, der es mit den Discotheken in London und New York aufnehmen konnte. Am Anfang war das Front eigentlich ein Treffpunkt für Lederkerle. Im nüchternen Ambiente eines Kellerlokals im Heidenkampsweg in St. Georg versammelten die Besitzer Willi Prange und Philip Clarke ab 1983 ihre Freunde um sich. Schnell sprach sich herum, dass hier Menschen und Musik jenseits des Mainstreams zu finden waren. Das Front war der erste Club in Deutschland, in dem House gespielt wurde. Klaus Stockhausen und Boris Dlugosch hießen die Helden am DJ-Pult. Die Party-Szene diversifizierte sich, es gab hier ein paar Jahre queeren Glamours, die unvergleichbar waren. Der Fotograf Rüdiger Trautsch hat diese Zeit in seinen Bildern festgehalten. Jungs, eng umschlungen auf der Tanzfläche, oder wartend im Gang vor dem Klo – auf einen Blow-Job oder eine Nase Koks. Die Front-Bilder zeigen schwules und queeres Nachtleben auf dem Höhepunkt der 1980er. Wie bei jedem legendären Laden waren auch die Tage des Front gezählt. Aids und Mainstreaming vertrieben die Magie. Mitte der 1990er machte der Club dann dicht.
93. Flying Lesbians
Schallplatte
Berlin (West), DE, 1975
Affekt: Freude
Die Flying Lesbians, eine unverblümte, knallharte und selbstbewusst amateurhafte Frauenrockgruppe, wurde in den 1970ern europaweit für ihre progressive, sexuell befreiende Rockmusik berühmt. Ihre Geburtsstunde war ein Auftritt ein paar Tage nach ihrer Gründung im Mai 1974 auf der „Rockfete im Rock“, einer Party nur für Frauen, die in der Mensa der Technischen Universität in West-Berlin stattfand. Schon bald feierten sie große Erfolge. Den ganzen Sommer 1974 über traten sie weiterhin bei Shows vor ausschließlich weiblichem Publikum auf und spielten im selben Jahr bei dem Frauenmusikfestival in Kopenhagen vor 30.000 Leuten. Offen lesbisch wurde die Band eine wichtige Stimme in der Frauen- und Lesbenbewegung der 1970er Jahre, bevor sie sich 1977 auflöste. In den letzten Jahren gaben sie einige Revival-Konzerte, darunter 2007 im Festsaal Kreuzberg und 2018 hier im Museum während des „Jahr der Frau_en”. Bei Events und Demonstrationen der lesbischen Community sind ihre Texte immer noch aktuell.
94. Blue
Derek Jarman
Film
London, GB, 1993
Affekt: Angst
Oftmals waren die Filme des britischen Regisseurs Derek Jarman (1942–1994) in bewegte Bilder übersetzte Meisterwerke der schwulen Kunst- und Kulturgeschichte. So zum Beispiel in seiner Verfilmung von Marlowes „Edward II.” und vor allem in der Künstlerbiografie des italienischen Malers „Caravaggio”, für die Jarman 1986 auf der Berlinale den Silbernen Bären bekam. Jarmans Filme waren ein visueller Rausch, in ihrer körperlichen Direktheit genauso wie in ihrem Bilder-Reichtum. Als Folge seiner HIV-Infektion erblindete Jarman Anfang der 1990er Jahre. Bevor er sein Augenlicht verlor, sorgen das Virus und die Medikamente dagegen für ein Farbspektakel auf seiner Netzhaut: „Blaue Blitze in meinen Augen”, so schreibt er. Nichts als blau – so wie ein Yves-Klein-Bild – zeigt dann auch sein letzter Film Blue von 1993. Zur Ansicht der monochromen Farbfläche spricht der erblindete Jarman aus dem Off: Es sind Texte über sein Leben als schwuler Künstler, Meditationen über Sinneserfahrungen und Ästhetik, Sex und Tod:
Ich bin eine männliche
Muff bestückte
Schwanzgeile Tunte
Mit verderbter Haltung
Eine arschleckende
Psychoschwester
Die die bürgerliche Ruhe stört
Lesbischen Jungs an die Eier geht
Ein perverser Heterodämon
Der mit dem Tod unter einer decke steckt
Ich bin ein schwanzlutschender
Lesbischer Mann
Mit Heterogehabe
Verfickt schlechten Manieren
Nymphomanisch auf die jungenhafte Tour
Mit hitzigen sexistischen Gelüsten
Von inzestuöser Perversion
Und falscher Terminologie
Ich bin ein ‘Not Gay.‘
95. Fotografien der Wohnung von Eberhardt Brucks, Holzstativ
Fotografien: Elisabeth Schonhauer-Schütz
Fotografie, Holz
Berlin, DE, 2003
Affekt: Fürsorge
Der Nachlass des Künstlers, Illustrators und Fotografen Eberhardt Brucks (1917-2008) füllt einen ganzen Raum im Archiv des Schwulen Museums. Das ist kein Wunder, denn Brucks vermachte uns seinen kompletten Hausstand: Teller, Schallplatten, Zeichnungen, Fotografien, Briefe, Bücher und vieles mehr. Als der ehemalige Geschäftsführer des Schwulen Museums, Karl-Heinz Steinle, Eberhardt Brucks zum ersten Mal besuchte, kam er in eine Zweizimmerwohnung, die an allen Wänden bis zur Decke vollgestopft war. Dieser Ort war selbst ein Archiv! Brucks‘ Sammelleidenschaft brachte seine Wohnung in Berlin-Lankwitz, wo er 75 Jahre lang gelebt hatte, fast zum Einsturz, ein solches Gewicht hatten die angesammelten Gegenstände. Zum Glück ist das nicht passiert, denn Eberhardt Brucks hat dem Schwulen Museum nicht nur den Inhalt seiner Wohnung, den umfangreichsten Nachlass, den wir besitzen, sondern auch die Wohnung selbst vermacht. Über solche Erbschaften wie die von Eberhardt Brucks können Projekte und Stellen im Schwulen Museum finanziert werden, z.B. in der Bibliothek oder im Archiv.
Brucks war eine wichtiger Zeitzeuge des 20. Jahrhunderts mit all seinen politischen Umbrüchen und Tragödien und ihren Auswirkungen auf eine schwule Biografie. Allerdings hat Brucks das Wort „schwul“ stets für sich abgelehnt. Lange Zeit lebte er mit seiner Mutter zusammen; die Wohnung war aber auch ein Rückzugsort für ihn und seinen Freund Hansi, der sich das Leben nahm. Sein künstlerisches und fotografisches Werk dokumentiert privates und politisches Leben für einen schwulen Mann im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Brucks hat als Illustrator und Autor für den „Kreis“ gearbeitet, die in Zürich verlegte, wichtigste deutschsprachige Schwulenzeitschrift nach 1945, oder seine Freunde und den schwulen Alltag zeichnerisch und fotografisch festgehalten. Neben den Aufnahmen von Brucks‘ Wohnung in Berlin-Lankwitz, die ihm auch als Atelier gedient hat, zeigen wir hier ein Holzstativ, das er bei seinen Fotoaufnahmen benutzt hat.
96. Anonymer HIV-Test
Unbekannt Papierdokument
Köln, DE, 1987
Affekt: Angst
Seit ihrer Einführung Mitte der 1980er Jahre sind HIV-Tests als Bedrohung empfunden worden. Negative Stigmatisierung und ständige Diskriminierung führten dazu, dass viele sich für einen anonymen Test entschieden. Dieser anonyme Test, der am 2. August 1987 in Köln durchgeführt wurde, ist von einer oder einem unbekannten Patienten, die oder der negativ getestet wurde. Die Patient_innen erhielten eine Nummer oder wählten ein Passwort, das dann dafür verwendet wurde ihren Fall zu dokumentieren. Die einzigen weiteren demographischen Daten, die sie preisgeben mussten, waren ihr Geschlecht und ihr Geburtsdatum. Am 2. März 1985 wurde der „Enzyme-Linked Immunosorbent Assay” (ELISA)-Test verfügbar gemacht, der den Beginn der Möglichkeit auf HIV zu testen markierte. Wie ein Stempel auf dem Dokument zeigt, kam in diesem Fall der ELISA-Test zur Anwendung. Zunächst wurde der ELISA zum Testen von Blutspenden verwendet. Die Testempfindlichkeit war hoch, was oft zu falschen positiven Ergebnissen führte, und beinhaltete auch eine extrem lange Wartezeit von fast drei Monaten. 1987 war ein neuer Test, der „Western Blot” genannt wurde, viel genauer, aber auch schwieriger durchzuführen. Ende der 1980er Jahre entstanden Tests der zweiten und dritten Generation, mit denen Antikörper nun früher nachgewiesen werden konnten. Heute sind die Tests sehr genau und schnell. Sie sind immer noch anonym über die Aids-Hilfe, Mann-o-Meter und andere Organisationen in der Stadt erhältlich.
97. Fächer und Perücke
(Nachlass Madame Kio)
Perücke, Holz
Berlin (West), DE, ca. 1960s-1990s
Affekt: Freude
Madame Kio, deren Biographie am Foto am Eingangswand dieser Ausstellung erklärt wird (siehe Objekt 1) war eine der berühmtesten Darstellerinnen der Westberliner Drag-Szene. In ihren Erinnerungen schildert sie diese Szene so: „Es war die Zeit des Drag – es gab einen regelrechten Boom! Es gab das Chez Nous, es gab Romy Haag, Straps-Harry, das Prisma, die Lützower Lampe, und es gab das Berliner Gasthaus. Alle waren gleichzeitig da, und alle hatten ein festes Programm. Es gab sicherlich mindestens dreißig Damenimitatoren, die Vollzeit in Berlin arbeiteten. Kamst du mal zufällig vorbei, lief im Theater des Westens ‚La Grande Eugène’ von der Daniel-Sander-Truppe oder du hattest da die Follies Parisiennes im Wühlmäuse. Du konntest von einem Ort zum anderen gehen, von einer Veranstaltung zur nächsten.”
98. ADEFRA-Bundestreffen
Daniela Tourkazi
Gelatine Silberdruck
Köln, DE, 1987
Affekt: Fürsorge
ADEFRA (Afrodeutsche Frauen), ist eine Organisation, die Mitte der 1980er Jahre gegründet wurde. Sie diente als politisches und kulturelles Forum für viele schwarze Frauen und Women of Color. ADEFRA wurde in Berlin mit der Unterstützung der bekannten feministischen Schriftstellerin und Wissenschaftlerin Audre Lorde ins Leben gerufen und ermutigte schwarze Aktivistinnen, sich mit anderen schwarzen Frauen in Deutschland zusammenzutun. Lorde hatte bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung der Organisation. Als Dozentin an der Freien Universität gab sie regelmäßig Kurse über Ethnizität und Frauenforschung. 1984 entwickelten sie zusammen mit Aktivistinnen von ADEFRA den Begriff „Afrodeutsch”. Die Bezeichnung als Afrodeutsche etablierte ein neues gemeinschaftliches Selbstverständnis und trug dazu bei, das Bewusstsein für die „Neue Schwarze Bewegung” zu schärfen. Dieses Foto dokumentiert ein Treffen kurz nach der Gründung; heute schafft ADEFRA Raum und Sichtbarkeit für schwarze Frauen durch politische Lobbyarbeit und durch regelmäßige Veranstaltungen und Initiativen auf Community-Ebene.
99. Audre Lorde
Daniela Tourkazi
Silber-Gelatine-Druck
Berlin, DE, 1987
sowie
100. Macht und Sinnlichkeit
Audre Lorde, Adrienne Rich, Hrsg. Dagmar Schulz
Buch
Berlin, DE, 1993
Affekt: Fürsorge
Audre Lorde (1934-1992) war eine amerikanische Schriftstellerin, Feministin, Bibliothekarin und Bürgerrechtsaktivistin. Sie selbst beschrieb sich als „Schwarze, Lesbe, Mutter, Kriegerin und Dichterin”. Sie widmete ihr Leben und ihr kreatives Talent der Konfrontation und Auseinandersetzung mit Rassismus, Sexismus, Klassismus und Homophobie. Ihr Werk sprach, in ihren Worten, „diejenigen von uns an, die in den Schmelztiegeln der Differenz geschmiedet wurden”. In diesem Zitat sind sowohl die zentrale Rolle, die die Positionalität in ihrer Arbeit und ihrem Denken spielte, erkennbar, als auch ihr Beharren darauf, dass die Unterschiede von Rasse, Geschlecht, Klasse und Erfahrung die breit angelegten Bewegungen für Gerechtigkeit bereichern, anstatt sie zu spalten.1984 wurde Lorde von Dagmar Schulz, einer Dozentin für Soziologie an der Freien Universität, zu einem Vortrag nach Berlin eingeladen. Während ihrer Zeit hier wurde sie ein wichtiger Teil der entstehenden afrodeutschen Bewegung; den Begriff selbst prägte sie 1984 mit einer Gruppe von Aktivistinnen (siehe auch den ADEFRA-Druck, Objekt 98; und die Plakate der Berliner Lesbenwoche, Objekt 24, in dieser Ausstellung) und wurde Mentorin für eine Reihe von Frauen, darunter May Akim, Katharina Oguntoye, Ika Hügel-Marshall und Helga Emde. Ihr Glaube an die Sprache als Werkzeug des Widerstands veranlasste Schulz, einige ihrer Schlüsseltexte, neben denen von Adrienne Rich, für diese 1993 veröffentlichte Sammlung zu übersetzen.