1. Madame Kio
Fotograf*in unbekannt
Farbiger Fotodruck
Berlin (West), DE, ca. 1980er Jahre
Affekt: Freude
Die legendäre Berliner Travestiekünstlerin Madame Kio wurde 1942 im ungarischen Györ als Cornél Hédl geboren, dessen Traum es schon immer gewesen ist, Balletttänzer zu werden. Nach dem Abschluss seiner Tanzausbildung im Jahr 1958, wurde Hédl noch vor seinem 20. Geburtstag Solist am Budapester Operettentheater, und hatte dann eine glanzvolle Karriere als Tänzer u.a. in Leipzig, in Düsseldorf (wo er seinen Partner Hermann kennenlernte, mit dem er bis zu dessen Tod 1988 zusammenleben sollte) und schließlich in Westberlin. Nach dem Ende seiner Ballettkarriere trat er als Travestiekünstler Madame Kio in Erscheinung: zuerst 1968 im Trojka, einer Bar unter der gleichen Leitung wie das legendäre Chez Nous; und dann im Chez Andre, einer kleinen Bar in der Fasanenstraße. 1970 eröffnete Madame Kio ihre eigene Bar, Fata Morgana, wo sie begann, aufwendige Bühnenshows zu organisieren und aufzuführen. Nachdem die Fata Morgana wegen eines Autobahnausbaus geschlossen wurde, leitete Madame Kio verschiedene Travestietheater und gründete „Kio and the Crazy Boys”, eine der größten Travestietruppen Berlins. Siehe auch Objekt 97.
2. Lesbischer Strickpulli
Ulrike Lachmann
Wolle
Deutschland (West), frühe 1980er Jahre
Affekt: Fürsorge
Anfang der 1980er Jahre strickte die lesbische Aktivistin Ulrike Lachmann auf liebevolle Art diesen lebhaft gestalteten Wollpullover. Übersät mit lesbischer und queerer Ikonographie wurde der Pulli viele Jahre lang mit Stolz und Überzeugung getragen. Lachmann nimmt das rosa Dreieck auf (und besetzt es damit neu), ein Symbol, dessen Ursprung in der Verfolgung von schwulen Männern während des Nazi-Regimes liegt. Sie erobert es als ein positives Symbol der sexuellen Identität und des sexuellen Ausdrucks zurück (eine Strategie, die in den 1980er Jahren auch während der Aids-krise zur Anwendung kam). Die Labrys, eine Doppelaxt, findet ihren symbolischen Ursprung in der griechischen und römischen Mythologie und verweist auf den Stamm matriarchalischer Kriegerinnen, die als Amazonen bekannt sind. Seit den 1970er Jahren wird die Labrys als Symbol für weibliche Stärke und Macht verwendet. Die Halbmonde dienen als Darstellung des Menstruationszyklus einer Frau, während sich mit der Doppel-Venus das Symbol von Weiblichkeit ineinander verschlingt und damit als Zeichen der lesbischen Community erweist. Die Herzen sind absichtlich in Rosa gestrickt: als Farbe der zweiten feministischen Bewegung der 1970er, nach dem Motto: „Feminismus ist die Theorie, Lesbischsein ist die Praxis”. Als Kleidungsstück macht der Pullover aus dem Privaten ein öffentliches politisches Statement.
3. Crisco-Schild
Stephen R.
Neonröhre
Hamburg, DE, 1982
Affekt: Begehren
Dieser verspiegelte Neonschriftzug gehörte einst Stephan R. aus Hamburg. Nachdem er bei einer Play-Session im Haus eines Bühnenbildners in in Berlin ein ähnliches Schild an der Wand bemerkt hatte, entwarf er im Jahr 1982 dieses Leuchtbild für seinen eigenen Playroom. Er fertigte es auch selber an. Die rote Neonfarbe ist eine Anspielung auf den Hanky Code für Fisting. Crisco, ein pflanzliches Backfett, schaffte leicht den Sprung von „The Joy of Cooking“ („Die Lust am Kochen”) zu „The Joy of Gay Sex“ („Die Lust am schwulen Sex”, ein bekannter Sex-Ratgeber) und war in den 1970ern ein weit verbreitetes Gleitmittel für schwule Analspiele. Keine geringere als die Pro-Sex-Feministin Gayle Rubin bemerkte zu diesem Thema, als sie den legendären Fistingclub „Catacombs“ in San Francisco beschrieb: „Nichts beseitigte jemals die allgegenwärtige Schicht von Crisco, die jede Oberfläche überzog… Crisco schmierte das Arschloch ein. Es schmierte die Körper ein. Es schmierte ganze Wände ein. Es schmierte den Weg für einen glatten und einfachen Kontakt.” Die Unverträglichkeit von Crisco mit Latex-Kondomen oder -Handschuhen führte in den 1990er Jahren zum Rückgang seiner allgemeinen Verwendung. In der post-antiretroviralen Ära erlebte es jedoch ein Comeback in Bareback-Subkulturen. Stephan R., der dieses Neonzeichen anfertigte, war einer der ersten, die in Deutschland an einer Aids-Erkrankung starben.
4. Selbstporträt
Jürgen Baldiga
Farbfoto
Berlin, DE, 1991
Affekt: Angst
In der zweiten Hälfte der 1980er trat die Figur des „Aids-Künstlers“ auf die Bühne. Fotografen wie Robert Mapplethorpe in den USA oder der Franzose Hervé Guibert (der zunächst als Schriftsteller bekannt wurde) dokumentierten das Leben und Sterben mit Aids. Man könnte fast glauben, in Deutschland gab es keine vergleichbaren Werke, so wenig ist diese Zeit repräsentiert. Aber das stimmt nicht. Seit Beginn der 1980er fotografierte Jürgen Baldiga (1959-1993) sein Leben und das seiner Freunde in der Schwulenszene West-Berlins, im Umkreis des SchwuZ. Nach Bekanntwerden seiner HIV-Diagnose verfolgte Baldiga das Projekt einer radikalen Selbst-Dokumentation: Bilder seines versehrten Körpers bis hin zum Tod. Bis heute hat Jürgen Baldigas Werk nicht die angemessene Aufmerksamkeit bekommen. War das Aids-Trauma jahrzehntelang zu heftig, sodass das Publikum lieber weg guckte? Im Zuge einer neuen Historisierung der Aids-Krise ändert sich nun der Blick auf die späten 1980er und frühen 1990er. Ein neues queeres Publikum stellt seine eigenen Fragen an jene Zeit. So hat zum Beispiel der Regisseur Jasco Viefhues im vergangenen Jahr einen Dokumentarfilm über Jürgen Baldiga („Rettet das Feuer“) herausgebracht. Und auch das Schwule Museum plant, durch Unterstützung von Forschung und Ausstellungsprojekten Baldigas Arbeiten so bekannt zu machen, wie sie es verdient haben.
5. Walpurgis in Berlin
Petra Gall
Schwarz-Weiß-Foto (Vergrößert)
Berlin (West), DE, 1983
Affekt: Wut
Gewalt gegen Frauen wird bis Anfang der 1970er Jahre totgeschwiegen. Erst die zweite Frauenbewegung bricht dieses Schweigen auf. In Selbsthilfegruppen wird den Teilnehmerinnen das epidemische Ausmaß und die Alltäglichkeit dieser Gewalt bewusst, woraufhin sie Gewalt gegen Frauen zum Gegenstand der politischen Debatte machen und Gegenmaßnahmen ergreifen. So wird 1976 in West-Berlin das erste Frauenhaus der BRD eröffnet. In der Nacht des 1. März 1977 gehen bei der ersten großen Demonstration gegen Gewalt gegen Frauen 1.500 Frauen in West-Berlin auf die Straße. Konkreter Anlass ist die Ermordung der 26-jährigen Susanne Schmidtke, die in einer Straße in Charlottenburg vergewaltigt und so stark misshandelt wird, dass sie drei Wochen später an den Folgen stirbt. Auf dem bundesweiten Frauenkongress am 5. und 6. März 1977 in München wird für den 30. April zu bundesweiten Nachtdemonstrationen aufgerufen. Das Motto dieser Demonstrationen lautet „Frauen, wir erobern die Nacht zurück!“ Diese sogenannten „Walpurgisnacht-Demonstrationen“ sind für die nächsten zwanzig Jahre fester Bestandteil des feministisch-aktivistischen Kalenders. Der Name „Walpurgis“ setzt Datum und Thema für die Demonstrationen. Die Nacht vom 30. April zum 1. Mai gilt in der Folklore als Hexensabbat und die Demonstrationen erinnern so an die weitreichende Verfolgung und Verbrennung von Frauen als Hexen während der Frühen Neuzeit. Petra Galls Foto, das mittlerweile ikonographisch für den feministischen Anti-Gewalt-Aktivismus geworden ist, hält einen Moment der Berliner Walpurgis-Demonstration von 1983 fest. Zu den weiteren feministischen Erfolgen im Kampf gegen Gewalt gegen Frauen gehören die Anerkennung der „Vergewaltigung in der Ehe“ durch den deutschen Bundestag im Jahr 1997 (bei 138 Gegenstimmen aus den Unionsparteien, unter anderem von Friedrich Merz und Horst Seehofer) sowie die erneute Änderung des §177 StGB im Jahr 2016. Siehe auch Objekt 61.
6. Bierdeckel von SPIRITS: eine Lesbenbar für Homosexuelle, Geschlechterchamäleons und andere Alleskönner
Ernest Ah, T Blank, C Detrow, Vera Hofmann
Bedruckter Karton
Berlin, DE, 2018
Affekt: Wut
Das Schwule Museum,1984 von progressiven Schwulen-Aktivisten in West-Berlin gegründet, hat in den vergangenen Jahren entscheidende, wenn auch unvollständige und umstrittene Schritte unternommen, um zu einem Raum zu werden, in dem nicht nur cis-Schwule, sondern auch Frauen, Menschen mit Transerfahrung und andere minorisierte (und rassifizierte) Menschen in der queeren Community ihre Geschichte und visuelle Kultur bearbeiten, kuratieren, organisieren und kennen lernen können. Das „Jahr der Frau_en“ 2018, das vom Vorstand initiiert und von den beiden Vorstandsmitgliedern Dr. Birgit Bosold und Vera Hofmann zusammen kuratiert wurde, war ein Jahr der Ausstellungs- und Veranstaltungsplanung (und der Interventionen in die Organisationsstruktur des Museums), das ausschließlich von, für und über Frauen und feminine-of-center queere Menschen stattfand (also jene queeren Menschen, für deren Gender-Identität Weiblichkeit eine entscheidende Rolle spielt). Eines der herausforderndsten Projekte in diesem Jahr war die Umwandlung des Museumscafés in eine Lesbenbar – ein Projekt, das in Beziehung zur (Wieder-)Schaffung dieses ikonischen safe space aus der lesbischen Geschichte steht. Die Installation bezog sich auf Schlüsselkonzepte der Lesbengeschichte; neue Tischplatten wurden mit Slogans und Schildern von WLINT*-Subkulturen gebrandet, und die Eröffnungsnacht war einer der bestbesuchtesten Abende in der Geschichte des Museums. Diese Bierdeckel wurden das ganze Jahr über in der „dyke bar” verwendet; mit ihnen wird ein turbulentes und vitales Kapitel der jüngsten Geschichte des Museums aufbewahrt.
7. Nie wieder: Krieg, Faschismus, Heterosexualität
Künstler*in unbekannt
Metallsticker
Herkunft und Zeit unbekannt, wahrscheinlich 1970er oder 1980er Jahre
Affekt: Wut
Buttons zum Anstecken sind eine kreative und unbeschwerte Art politische Meinungen zum Ausdruck zu bringen. Dieser Anstecker übernimmt den Satz „Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!”, ein populärer Slogan, der nach dem Zweiten Weltkrieg entstand und bezieht ihn auf die Frage von Heterosexualität, und schafft damit eine Ebene, die man als gleichzeitig spielerisch und todernst interpretieren kann: eine klassische schwule und queere Kommunikationsstrategie also. Beleuchtet dieser Sticker die Dominanz der Heterosexualität, macht er sich über die Ernsthaftigkeit von linkem Aktivismus und Protest lustig, oder erklärt er, in Anlehnung an Denker wie Wilhelm Reich und Herbert Marcuse, das System von Zwangsheterosexualität und sexueller Unterdrückung selbst für schuldig an den Schrecken von Faschismus und Krieg? Auch die Hinzufügung des zurück eroberten rosa Dreiecks, des Symbols, das von den Nazis zur Identifizierung homosexueller Männer verwendet wurde, verweist auf die ursprüngliche Bedeutung des Slogans.
8. Heterosexuell? Nein, Danke
Künstler*in unbekannt (Sammlung Buttons)
Metallnadel
Deutschland, ca. 1970er Jahre
Affekt: Wut
Die erste Ölkrise von 1973-74 beschleunigte den Bau von Atomkraftwerken in vielen Ländern weltweit. Atomenergie bot einen Ausweg aus der Ölkrise – aber einen, der viele, die gegen das Erzeugen von Atommüll und die Gefahr einer nuklearen Katastrophe waren, ängstlich und wütend machte. Die Anti-Atomkraft-Bewegung, eine der widerstandsfähigsten sozialen Bewegungen in Deutschland, begann in den 1960ern und erstarkte in den 1970ern. 1975 entwarf Anne Lund, damals Studentin in Dänemark, das ikonische Anti-Atomkraft-Logo mit dem Slogan: „ATOMKRAFT? NEIN DANKE“. Es wurde in über 45 Sprachen übersetzt und von mehreren anderen sozialen Bewegungen übernommen und verwendet. Dieser „HETEROSEXUELL? NEIN DANKE“-Button zitiert das auf Atomkraft bezogene Logo und wurde bei den Pride-Paraden der 1970er weitreichend verteilt. Die Gestalter fügten dem übernommenen Button falsche Wimpern und eine herausgestreckte Zunge hinzu und gaben dem Anstecker damit noch mehr Verspieltheit.
9. Johnny Kingsize
Annette Frick
Silber-Gelatine-Druck,
Berlin, DE, 2003
Affekt: Begehren
Annette Frick, geboren 1957 in Bonn, studierte Fotografie und Bildende Kunst in Köln, wo sie auch ihren Master-Abschluss machte. 1996 zog sie nach Berlin und begann Phänomene der Subkultur wie die Punk- und LGBT-Szene zu fotografieren. Fricks fotografische Arbeiten lenken die Aufmerksamkeit auf Menschen, die sich mit Körperbild, Gender und sexuellen Rollen auseinandersetzen. Dabei geht es Frick nicht um eine Romantisierung ihrer Sujets, sondern vielmehr um die Konstruktion von Selbstbildern und deren Interpretation.
In dieser Fotografie von 2003 sehen wir Johnny Kingsize. Johnny Kingsize war Mitglied der Drag-King-Gruppe „Kingz of Berlin“ und später auch bei den „Kingz Connection“ dabei (Siehe hierzu auch Objekt 45). Während seine butche Selbstinszenierung die Drag-King-Position bekräftigt, lenkt die Fotografie den Blick auf seine Unterarme. Hier ist zu lesen: „Respect Femmes“. Fricks Fotografie lebt von dem Spannungsverhältnis dieser beiden Elemente: Johnny Kingsize benutzt seine eigene Position im Bild dazu, Respekt für die Femme-Position einzufordern; auch in der FLINT* (Femme Lesbian Inter Trans, oder damals noch FL Community) werden Femmes teilweise wenig wahrgenommen, oder nur in Gegenüberstellung zu Butches verstanden. Mit seiner Pose bringt Kingsize die vermeintliche Opposition und Hierarchie zwischen diesen Positionen ins Wanken. Über sich selbst sagt er: „(Ich) habe mich auch nie als Lesbe, Butch oder so definiert. Trotzdem war das Drag-King-Sein nur zum Teil spielerisch für mich.“ Und weiter: „Wenn ich mein Leben betrachte, gibt es definitiv eine lineare Entwicklung hin zu meinem jetztigen Leben als Trans*-irgendwas, von mir aus als Transmann.“
Über seine eigen Transition und den Hormongebrauch sprach er in einem Interview: „die verändern halt eben die Stimme, Bartwuchs fängt an und wenn man sie länger nimmt, dann verändert sich auch die körperliche Statur und der Zyklus bleibt aus und dann gibt es natürlich zwei Dinge, die man entscheiden muss. Einmal ist es natürlich ein Eingriff in den Körper, also gerade in einen gesunden Hormonhaushalt einzugreifen, also man muss sich das sehr wohl überlegen, also dass ist der eine Punkt, und der zweite Punkt ist natürlich die Irreversibilität der Dinge. Das heißt, wenn man die Hormone absetzt oder so, dann bleibt ja die Stimme oder der Bartwuchs bestehen.“
10. Blätter der Ausstellung des Papierstapelwerks „Ohne Titel (Join)” in der NGBK, 1990
Félix González-Torres und Michael Jenkins
Offsetdruck auf Papier
New York, USA und Berlin, DE, 1988-1990
Affekt: Begehren
Der in Kuba geborene Amerikaner Félix González-Torres (1957 – 1996) war ein offen schwuler Konzeptkünstler, dessen Engagement für soziale und politische Belange seine Praxis auf die Vermischung von öffentlichem und privatem Leben ausrichtete. Torres‘ ruhige, minimalistische Installationen und Skulpturen verwendeten oft prosaische Materialien: Glühbirnenketten, Uhren, Bonbons, Papierstapel. Dieses ästhetische Projekt ähnelte, wie einige Wissenschaftler argumentierten, Brechts Artikulation eines epischen Theaters; mit einer unruhigen Spannung zwischen Form und Inhalt, mit einem Verfremdungseffekt, der den Betrachter zur bewussten Teilnahme zwingt und ihn in einen aktiven, reflektierenden Beobachter verwandelt, der am Werk selbst teilnimmt.
Die Papierstapelarbeiten von González-Torres, ein paar Dutzend an der Zahl, bestehen aus Stapeln von Hunderten von Papierblättern, jedes mit einer bestimmten „idealen“ Höhe. Die Besucher der Galerie sind dann eingeladen, ein oder zwei Poster kostenlos mit nach Hause zu nehmen. Wenn ein Stapel abnimmt, kann der Eigentümer oder der autorisierte Ausleiher des Werkes ihn aufbrauchen oder wieder auffüllen lassen. Die Materialien im Stapel werden als „Endloskopien“ aufgeführt. „Untitled (Join)“ zeigt ein vom Künstler Michael Jenkins aufgenommenes Aktporträt eines Mannes mit Matrosenhut. Ist er wirklich ein Matrose, oder hat er sich verkleidet, um eine sexuelle Fantasie zu erfüllen? Wozu werden wir eingeladen: zu einem schwulen Traum von der Marine oder möglicherweise zur Homosexualität selbst?
1990 organisierte das Schwules Museum, das sich zu diesem Zeitpunkt erst seit zwei Jahren in seinem ersten Langzeitwohnsitz befand, gemeinsam mit der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) in Kreuzberg eine Ausstellung mit Kunst zum Thema AIDS. Sie trug den Titel Übers Sofa – auf die Straße! Kunst und schwule Kultur im Aids-Zeitalter, wurde die Ausstellung von dem legendären Frank Wagner kuratiert, dessen bahnbrechende und international gefeierte Ausstellungen (vor allem zu kritischen, Aids-, Gender- und LGBTQI-Themen) oft Künstler nach Berlin brachten, bevor sie international bekannt wurden. Neben Gonzáles-Torres präsentierte Wagner in Berlin zum ersten Mal auch die Werke von Künstlern wie David Wojnarowicz und General Idea.
Blätter aus den Papierstapelwerken von Gonzáles-Torres wurden in Auktionshäusern und Galerien nach verschiedenen Erscheinungsformen dieser Werke verkauft, obwohl sie selbst nicht „die Werke“ sind, was die Frage nach der Schnittmenge der künstlerischen Strategien der Werke selbst mit einem hyperkommodifizierten Kunstmarkt aufwirft. Was bedeutet Eigentum, wenn von Konzeptkunst die Rede ist? Wie schaffen wir Wert? Stehen diese Verkäufe oder das Begehren, Sammeln (oder Archivieren?) dieser Blätter im Widerspruch zu Gonzáles-Torres‘ Absicht, ein offenes und partizipatives Werk zu schaffen? Der Künstler war bekanntlich fasziniert von der Art und Weise, in der Materialien im öffentlichen Raum zirkulierten. Diese Sammlung von Blättern, sind faszinierende, spannungsgeladene Objekte. Siehe auch Objekt 90.
11. Rhea
Red Rubber Road (AnaHell und Nathalie Dreier)
Digitaler Pigmentdruck
Berlin, DE, 2019
Affekt: Begehren
Das lesbische Künstlerinnenduo „Red Rubber Road” setzt witzige, fast surreale Inszenierungen ins Bild: Von den beiden weiblichen Körpern in „Rhea” sind durch einen Spalt in einem grünen Stoffsack (ein Zelt?) nur jeweils eine Brust sichtbar. Diese sind übereinander angeordnet, wie die beiden Modelle im inneren des Stoffsacks positioniert sind, ist nicht ganz klar. Sitzt die eine auf den Schultern der anderen? Das Ergebnis zeigt fragmentierte weibliche Körper, die sich dem Blick zugleich präsentieren und entziehen. Was aber klar ist: sie gehören zusammen. Die lebendige Skulptur ist inmitten einer grünen Landschaft platziert, der sie anzugehören scheint. Das weibliche Doppelwesen wird so zu einer mythischen Figur, zu einem Fabelwesen. AnaHell und Nathalie Dreier waren 14 Jahre alt, also sie mit dem Projekt Red Rubber Road begannen ihre Freundschaft zu dokumentieren. Immer sind beide Körper der Künstlerinnen in den Bildern zu sehen, oft verschlungen ineinander. Ihre Gesichter sieht man nicht.
12. Harvey Milk Forever Stamp Pin
Fotografie von Daniel Nicoletta, Gestaltung der Briefmarke von Antonio Alcalá
Anstecknadel aus Metall
USA, 2014
Affekt: Wut
Harvey Milk (1930-1978) schrieb am 8. Januar 1978 Geschichte: Als er in den Vorstand der Stadtverwaltung von San Francisco gewählt wurde, gewann er als erster offen schwuler Mann in den Vereinigten Staaten eine Wahl für ein öffentliches Amt. Eine der ersten Initiativen Milks als Stadtratsmitglied war die Unterstützung eines Gesetzes gegen die Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung. Das Gesetz wurde verabschiedet und löste eine gewaltige Veränderung in der politischen Kultur der USA aus. Am 27. November 1978, nachdem er noch nichtmal ein Jahr im Amt war, wurden Milk und der Bürgermeister George Moscone vom ehemaligen Stadtratsmitglied Dan White erschossen. White wurde später wegen Mordes ersten Grades angeklagt, aber von der Jury nur wegen vorsätzlichen Totschlags verurteilt. Diese milde Gefängnisstrafe erzürnte die LGBTQI-Gemeinschaft und führte zu den „White Night Riots”. Die politischen Errungenschaften von Milk haben auch heute noch eine grosse Resonanz. Im Jahr 2009 verlieh Präsident Barack Obama Harvey Milk posthum die prestigeträchtige Presidential Medal of Freedom. Im Jahr 2014 gab das Weiße Haus diese Sonderbriefmarke heraus. Der Vize-Postminister Ronald Stroman sagte dazu: „Diese Briefmarke soll uns an die fundamentale Wahrheit hinter der Botschaft von Harvey Milk erinnern – dass Gleichberechtigung uns alle angeht (…). Diese Briefmarke soll eine neue Generation dazu inspirieren, das Vermächtnis von Harvey Milk fortzuführen.”
13. Providing Educational Opportunities to Sex Workers
Annie Sprinkle
Doktorarbeit
San Francisco, USA, 2002
Affekt: Begehren
Wie zeigt sich weibliche Lust – im Unterschied zur männlichen? Mit solchen Fragen beschäftigt sich die feministische Theorie seit den 1970er Jahren und las dabei die Psychoanalyse gegen den Strich: denn Sigmund Freud konnte sich sexuelle Erregung nur als phallische vorstellen und stilisierte das Weibliche demgegenüber als unendliches Mysterium. Generationen von Künstlerinnen und Filmemacherinnen gingen seitdem der Frage nach, wie die männliche Herrschaft im Bereich von Sexualität und Sichtbarkeit gebrochen werden konnte. Die Performance-Künstlerin und Sex-Arbeiterin Annie Sprinkle hatte zum Beispiel die Idee, die männliche Schaulust, die sich auf die Suche nach dem „Rätsel“ weiblicher Lust macht, ganz wörtlich zu nehmen. Anfang der 1990er tourte sie mit einer Show durch Deutschland, bei der sie das Publikum einlud mit einem Speculum – quasi einem medizinischen Fernrohr – in ihre Vagina hineinzuschauen. Sprinkle ging auch wissenschaftlich der Frage nach, welchen Problemen sich weibliche sexuelle Emanzipation zu widmen hatte. Für diese soziologische Untersuchung weiblicher Sexarbeit wurde ihr 2002 von der University of San Francisco der Doktortitel verliehen.
14. Pelze
Lena Rosa Händle
Ausstellungskopie, Dauerleihgabe SMU Berlin
Neonschrift, Aluminiumgitter, Kabel, Ketten
Wien, AT, 2015
Affekt: Begehren
Das Neonzeichen der Künstlerin Lena Rosa Händle (geb. 1978) rekurriert auf den Schriftzug des „PELZE multimedia”, einem besetzten Frauen*Lesben Raum in einem ehemaligen Pelzgeschäft in der Potsdamer Straße in Berlin. Das von verschiedenen Kollektiven geführte Pelze war von 1981 bis 1996 Treffpunkt für Künstlerinnen und Aktivistinnen, die mit ihren subversiven avantgardistischen Kunstaktionen auch die eigene feministische Szene provozierten. Mit der händischen Übersetzung der Originaltypografie in ein neues Objekt greift Händle sowohl die (Un-)Sichtbarkeit als auch die Wiederentdeckung dieser Geschichten in der queer-feministischen Wissensproduktion auf. Zugleich nimmt sie Bezug auf die Femme Fatale als Motiv der Kunstgeschichte, die seit Leopold von Sacher-Masochs Novelle „Venus Im Pelz” (1870) mit dem Material Pelz in Verbindung gebracht wird. Das Kunstwerk wurde 2018, im „Jahr der Frau_en“, in der Ausstellung „Lesbisches Sehen“ im Schwulen Museum gezeigt und ist seitdem als Dauerleihgabe Teil der Sammlung.
15. Läsbisch-TV
Berlin, DE, 1991-1993
Affekt: Wut
Läsbisch-TV (LTV) wurde von einem Kollektiv von mehr als 100 Frauen ins Leben gerufen, produzierte in den zwei Jahren seines Bestehens 27 Episoden und hatte zeitweise bis zu 350.000 Zuschauer. Ausgestrahlt wurde es auf dem Kabelsender FAB (Fernsehen aus Berlin), wo auch die schwule, von Rosa von Praunheim gegründete Show „Andersrum“ gezeigt wurde. Die Sendungen wurden zur Ansicht und Weiterverbreitung im VHS-Format an 25 verschiedene Frauen- und Lesbenzentren in Nordeuropa geschickt. Jedes Programm bestand aus drei- bis zehnminütigen Beiträgen zu Kunst, Politik, Sport, Alltag, Kulturnachrichten und mehr. Mit niedrigem Budget und leidenschaftlichen Idealen beinhaltete dieses Gemeinschaftsprojekt Werke von Sharron Sawyer, Susu Grunenberg, Krisi Barock, Barbara Klingner, Kirsten Lenk, Silke Schlichting, Mahide Lein, Guy St. Louis, und vielen mehr. Sowohl LTV als auch Andersrum wurden 1993 eingestellt. Lange Zeit existierten die Originalbänder der Sendungen nur in der Privatsammlung von Mahide Lein, bevor sie digitalisiert und archiviert und 2018 auf DVD neu herausgebracht wurden.
16. Butch (Dyptichon)
Marc Martin
Digitaldruck
Berlin, DE und Antwerpen, BE, 2008-2018
Affekt: Begehren
Der zwischen Paris und Berlin lebende Foto- und Videokünstler Marc Martin beleuchtet in seinen Bildern die dunklen Schatten des erotischen Spiels und fordert unsere Vorstellungen von Schönheit und Abstoßung, von gutem und schlechtem Geschmack heraus. Seine Bilder erforschen eine Vielzahl queerer Männlichkeiten – cis und trans, schwul und lesbisch – als Accessoires der Manifestation eines queeren Begehrens. Er sagt, er liebt „Schweine und Blumen”. Seine Ausstellung „Fenster zum Klo” über die Erotik und Kulturgeschichte des Klappensexes war ein Höhepunkt im Ausstellungskalender des Schwulen Museums der vergangenen Jahre. Dieses Diptychon untersucht, wie queere Männlichkeiten durch verschiedene Subjektpositionen erotisiert werden können. Es zeigt zwei Modelle – Manuela in Berlin und BRD in Antwerpen. Diese Arbeiten sind Neuzugänge in der Sammlung des Museums und waren ein Geschenk des Künstlers anlässlich dieser Ausstellung.
17. Porno-Kiste
Diverse pornografische Hefte aus der Sammlung des Schwulen Museums
1970-1990er Jahre
Affekt: Begehren
Porno, Porno, Porno: Wenn es im Archiv des Schwulen Museums etwas im Überfluss gibt, dann ist es Pornografie, vor allem schwule Pornografie von den 1970ern bis in die 1990er. Bevor die begehrenswerten Männerbilder erst auf VHS und dann später digital allgegenwärtig wurden, waren sie auf Magazinseiten und als ausklappbare Poster im Umlauf. Verblichene Hefte, die leidenschaftlich gesammelt und getauscht wurden und heute ihren Gebrauchswert eingebüßt haben. Als erotisches Hilfsmittel kommen sie kaum noch zum Einsatz. Wert haben sie noch als historisches Dokument oder zu Unterhaltungszwecken: Diese Wohnungseinrichtungen und Frisuren rahmten damals den nackten Männerkörper! Eine solche Körperpolitik definierte Normierungen und Exotisierungen! Mit dieser Sprache versuchte man sich in Stimmung zu bringen! Nicht, dass wir diese Materialien nicht zu schätzen wüssten. Pornografie hat unzähligen schwulen Männern das Leben gerettet, schrieb der britische Kritiker Richard Dyer einmal. Doch für das Archiv stellt diese Liebhaberei eine Herausforderung dar. Die Magazine, die wir hier verschenken, haben wir alle doppelt und dreifach. Also bitte bedienen Sie sich!
18. Ohne Titel, vermutlich Selbstporträt
Herbert Rolf Schlegel
Öl auf Leinwand
Schondorf am Ammersee, DE, vermutlich 1950er Jahre
Affekt: Begehren
Es gibt bisher nur wenig biografische Informationen über den deutschen Maler Herbert Rolf Schlegel (1889–1972), einem Vertreter der romantischen Variante der Neuen Sachlichkeit. Dafür haben wir aber seine Bilder: Androgyne junge Männer mit einer Vorliebe für exzentrisches Schuhwerk. Auffällige Gamaschen mit hohen Absätzen, die in einigen seiner Bilder wiederkehren und mehr noch als die Gesichtszüge darauf hinweisen, dass es sich hier oftmals um dieselbe Person handeln könnte, nämlich den Maler selbst. Die farbenfrohen Selbstporträts sind entweder von bürgerlichen Interieurs oder Gartenanlagen und Parks gerahmt. Selbstinszenierungen, die die Künstlichkeit des eigenen Erscheinungsbildes und seiner Umgebung sichtlich auskosten. In Abgeschiedenheit wird Queerness hier als stilistische Selbstverwirklichung zelebriert, die Gendernormen hinter sich lässt. Das Anderssein, das hier plakativ und naiv gleichermaßen auf die Leinwand gebracht wird, fügt sich aber nicht ohne weiteres in einer Kulturgeschichte von Drag oder Cross-Dressing ein. Schlegels Bilder sind camp. Ihr Stil ist so eigen, dass er unseren Blick noch immer auf sich zieht.
19. For Everard Vol. 1 – 11
Anthony Malone (Martin Marafioti)
Schwarz-Weiß-Druck, Fotocollage
New York, USA, 2013 – 2019
Affekt: Begehren
Die Everard Baths in der 28. Straße in Manhattan wurden als „öffentliches Badehaus“ gegründet, bis sie später die berühmteste Schwulensauna New Yorks wurden. 1888 wurde das „Everhard“, wie es von Gästen kurz genannt wurde, in einer ehemaligen Kirche eröffnet. Gesundheit und generelle Fitness waren seine Mission. Aber spätesten seit den 1920ern etablierte es sich als schwuler Treffpunkt. Der Historiker George Chauncey berichtet in seiner queeren Geschichte New Yorks davon. Die Schriftsteller Gore Vidal und Truman Capote gehörten zu den berühmten Gästen des Everard. Der Eintritt betrug fünf Dollar für einen Schrank und sieben für eine Kabine. Am 25. Mai 1977 brach ein Feuer im Gebäude aus, bei dem neun Besucher starben. Dieses Feuer war ein entscheidendes Handlungsmoment in zwei der bedeutendsten schwulen Romane, die beide im Sommer 1977 zwischen Manhattan und Fire Island angesiedelt waren und dann zwei Jahre später, 1979, erschienen sind: Andrew Hollerans „Dancer from the Dance” und Larry Kramers „Faggots”. Nach den Reparaturarbeiten öffnete das Everard wieder. 1986, fast 100 Jahre nach seiner ursprünglichen Eröffnung, kam dann schließlich das endgültige Aus. Bürgermeister Ed Koch machte im Zuge der Vorsichtsmaßnahmen gegen die Ausbreitung von HIV alle Sexclubs und Saunen der Stadt dicht. Der Künstler Martin Marafioti, der sich Anthony Malone nennt (nach dem verträumten und verlorenen Helden aus Hollerans Roman), hat das Medium des Zines gewählt, um an die Opfer des Brandes zu erinnern. Die Toten wurden damals von ihren Freunden identifiziert, es waren Männer zwischen 17 und 40.
20. Diseased Pariah News, Nr. 5 (1993)
(Sammlung Zeitschriften)
San Francisco, USA, 1993
Affekt: Wut
Das aus Francisco kommende Zine „Diseased Pariah News” und seine Schwesterpublikation „Infected Faggot Perspectives” waren zwei der ersten Zines, die in den 1990er Jahren von, für und über Menschen mit HIV und AIDS herausgebracht wurden. Diseased Pariah News bot eine Kombination aus mutiger und radikaler Politik, Galgenhumor und fundierten Ratschlägen für jene, die zu einem Zeitpunkt der Pandemie der 1980er und 1990er lebten, als es kaum Hoffnung auf ein Überleben gab. Alle Redakteure hatten HIV oder AIDS, und nur einer von ihnen überlebte, bis die Einführung von Protease-Hemmern im Jahr 1996 die Krankheit zumindest für Menschen mit Krankenversicherung und Zugang zu medizinischer Versorgung beherrschbar machte. Die Zeitschrift machte „OncoMouse” zu ihrem Maskottchen (genetisch veränderte Mäuse, die für die Laborforschung Tumore tragen), veröffentlichte Koch-Kolumnen mit dem Titel „Get Fat, Don’t Die”, zeigte nackte Jungen im Centerfold und Werbung für AIDS-Barbies neben Informationen, die für kranke und sterbende Menschen nützlich waren. Das Titelbild dieser Ausgabe zeigt Roy Cohn, einen rechtsgerichteten politischen Heuchler und Freund des schwulenfeindlichen Präsidenten Ronald Reagan (und übrigens auch ein Mentor von Donald Trump), der 1986 an einer AIDS-bedingten Krankheit starb. Cohn wurde zu einer der zentralen Figuren in Tony Kushners Theaterstück „Angels in America”. Neben ihm ist Kimberly Bergalis zu sehen, eine heterosexuelle Frau, die sich bei einer Zahnoperation versehentlich infizierte und von den Medien als jungfräulicher „schuldloser” Todesfall dargestellt wurde. Vor ihrem Tod hatte sie sich mit rechten Politikern zusammengetan, um sich für harte Maßnahmen gegen Menschen mit HIV und AIDS einzusetzen. Die hier zu sehende Bildstrecke aus dem Heft verbindet humorvolle Ratschläge für Patienten beim Arztbesuch mit einer Werbung dafür, sich die Lebensversicherung auszahlen zu lassen, um zu verhindern, dass homophobe Verwandte bei dem Tod, der einem droht, Kasse machen.
21. Straight to Hell: The Manhattan Review of Unnatural Acts
Hrsg. Boyd McDonald
Fanzine
New York, USA, 1973-1983 (2017)
Affekt: Begehren
Zines – also kleinformatige Hefte, die billig produziert werden – haben schon als Medium selbst einen subkulturellen Wert: Auf den oftmals fotokopierten und schnell zusammen gehefteten Seiten präsentiert sich eine Gruppe unabhängig von Marktgesetzen und Vertriebswegen der professionellen Publizistik. Zines sind oftmals die Arbeit von Amateuren im besten Wortsinn von amare = lieben. Liebhaber einer bestimmten Kultur versammeln sich hier als Produzenten und Konsumenten von Bild und Text. So auch in „Straight to Hell: The Manhattan Review of Unnatural Acts” (STH), die Boyd McDonald von 1973 bis 1983 herausgegeben hat. (Die bisher letzte Nummer erschien 2017, herausgegeben von Billy Miller). Auf dem Höhepunkt ihres Erscheinens wurden 10.000 Exemplare von STH verkauft. Neben Fotos nackter Männer und Collagen lag der Akzent vor allem auf den Texten. Das Heft bestand zu einem großen Teil aus Leserbriefen. Darin berichteten Männer von ihren Sexerlebnissen auf Autobahnraststätten, in den Toilettenkabinen von Kaufhäusern oder mit Typen, die sie auf der Straße kennengelernt hatten. Viele der Männer von denen hier berichtet wurde, führten ein heterosexuelles Leben, waren also „straight“. Das Wortspiel im Titel kündigt an, wo man landet, wenn man seine heterosexuelle Identität hinter sich lässt: Direkt in der Hölle – die hier natürlich der Himmel auf Erden ist. Zines markieren meistens einen spezifischen Zeitpunkt in der Geschichte einer Subkultur. Aber wie der Zine-Boom seit den 2000ern – mit Titeln wie Butt, Kink und Meat – verrät, erfindet sich jede Generation wieder neu im Medium des Zines.
22. Seemonster-Serie
Krista Beinstein
Silber-Gelatine-Druck
Ca. 1980er Jahre
Affekt: Begehren
Die Arbeiten der in Österreich geborenen Künstlerin Krista Beinstein sind von lesbischer Erotik, sex-positivem Feminismus und Performance geprägt. Ihre Fotografien, Filme und Performances erforschen erotische Phantasien, sexuelles Begehren und verschiedene Fetische. Ihre Inszenierungen von weiblicher Lust und Wollust gehören zu den radikalsten Werken im Bereich der erotischen Kunst. In einem Interview mit der Künstlerin, Kuratorin und Kulturwissenschaftlerin Claudia Reiche erklärte Beinstein: „Sex ist mein Medium”. Ihr erstes Buch „Obszöne Frauen”, das 1986 veröffentlicht wurde, zeigt viele Frauen als Objekt und auch als Subjekt obszöner Vorstellungen. Sie ist eine rebellische Künstlerin, die ihre Erotik- und SM-Fotografien und Performances meist spontan entwickelt. Aber Beinstein ist nicht nur daran interessiert, das Thema Sex als eine Frage der Inszenierung zu bearbeiten. Ihre Arbeit geht darüber hinaus und widmet sich einem existenziellen politischen Kampf um das „Tabu” der weiblichen Sexualität. Intimität und Verwundbarkeit haben für Beinstein Vorrang, wenn sie private Geschichten enthüllt.
23. Paulines Hammer
Manfred Dübelt und Jörg Marx (DÜMADISSIMA)
Mixed-Media-Skulptur
Hamburg, DE, 2018
Affekt: Begehren
Von außen eine unscheinbare, harmlose Apfelsinenkiste – aber wenn man durch das Peep-Hole hineinguckt: Eine schummrig beleuchtete Szenerie, links ein nackter Kerl, der zu allem bereit ist, und rechts am Pissoir ein Lederkerl, der es einfach laufen lässt. Und was bedeutet der Schatten rechts hinter dem Spiegel?
Die Hamburger Künstler Manfred Dübelt und Jörg Marx (DÜMADISSIMA) haben das Kunstprojekt „Paulines Hammer“, ein Modellnachbau einer öffentlichen Toilette – also einer „Klappe“ – mit Porzellanfiguren, Beleuchtung und Wasserkreislauf geschaffen. Gewürdigt werden sollen damit der Schauspieler, Dramaturg und KZ-Überlebende Harry Pauly und der Schauspieler und Theaterintendant Corny Littmann (Schmidts Tivoli).
In Hamburg galt seit 1961 ein Klappenverbot, dessen Einhaltung durch Polizisten und Zivilfahnder kontrolliert wurde. Verantwortlicher Innensenator der Hansestadt war damals der spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt. Durchgesetzt wurde das Verbot u.a. dadurch, dass Polizisten durch halbdurchsichtige Spiegel das Treiben auf den öffentlichen Toiletten beobachteten. Die Schwulen kamen dahinter. Aber erst 20 Jahre später kam es zu einem symbolträchtigen Protest-Akt:
Corny Littmann berichtet über die sogenannte „Hamburger Spiegelaffäre“: „Pauline Courage (Anm.: Harry Pauly) reichte uns einen schweren Hammer heraus, und wir sind dann runter in die Klappe unter dem Spielbudenplatz an der Taubenstraße. Mit dem Hammer haben wir nacheinander auf den Spiegel eingeschlagen.
24. Plakate der Berliner Lesbenwoche
Druck auf Papier
Berlin, DE, 1989, 1994
Affekt: Wut
Die Berliner Lesbenwoche war eine jährliche politische Veranstaltung, die 1985 zum ersten Mal stattfand. Sie war als eine Woche mit Podiumsdiskussionen und Treffen zu wichtigen Themen des lesbischen Aktivismus gedacht – darunter Wirtschaft, Umweltschutz, Rassismus, Sex, Antisemitismus und mehr. Die Veranstaltung wurde berühmt und berüchtigt durch die Konflikte zwischen verschiedenen Gruppen von Frauen. Nach wiederholten Konflikten um Rasse, Identität und Migration – darunter Proteste gegen die Verwendung des Wortes „Volk“ durch einige jüdische Lesben bei der ersten Lesbenwoche 1985, und Proteste von schwarzen Frauen, die den Zugang zum Veranstaltungsraum blockierten, um auf rassistische Behandlung aufmerksam zu machen, bei späteren Veranstaltungen – wurde Rassismus zum zentralen Thema auf dem 1994 von schwarzen und weißen Frauen gemeinsam organisierten Treffen. Viele der Organisatorinnen der Veranstaltung von 1994 wurden von „Farbe Bekennen” (1986) inspiriert, bzw. hatten, wie Katharina Oguntoye, selbst daran mitgeschrieben, einer wegweisenden Textsammlung, die als erste den Begriff „afrodeutsch” verwendete und das erstes nur von Afrodeutschen veröffentlichte Buch ist. Die Anthologie wurde stark durch die Freundschaft der Autorinnen mit der schwarzen amerikanischen Feministin Audre Lorde beeinflusst.
25. Die schwarze Botin
Brigitte Classen, Gabriele Goettle, Ginka Steinwachs, Elfriede Jelinek u.a.
Magazin, SW auf Papier
Berlin, DE, 1976-1987
Affekt: Wut
„Die schwarze Botin” war eine militante, anarcha-feministische Zeitschrift aus der autonomen Szene. Sie wurde von 1976 bis 1987 unregelmäßig, anfangs von Gabriele Goettle und Brigitte Classen, herausgegeben und vom West-Berliner Frauenbuch-Vertrieb gedruckt. Sie prägte den feministischen Diskurs der Zeit und positionierte sich bereits zu Beginn der ersten Ausgabe als stellvertretend für eine Frauenbewegung, „wo der klebrige Schleim weiblicher Zusammengehörigkeit sein Ende hat.“
Ein Nachruf auf Ulrike Meinhof und eine Abrechnung mit der zur gleichen Zeit gegründeten und eher marktorientierten Zeitschrift „Emma” stehen in diesem Heft neben Kritik an der neuen Literatur der Innerlichkeit, wie sie für die neue deutsche Frauenbewegung charakteristisch war.
Literarische Texte, Literaturkritik und politische Theorie ziehen sich als zentrale Genre und Themen durch die Ausgaben. Während die Künstlerin Sarah Schuhmann oft Bildmaterial zusteuerte, war die spätere Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek viele Jahre verantwortlich für die Wiener Redaktion der Zeitschrift, die auch die österreichische und französische Bewegung mit einbezog. Jelinek hatte Ihren Einstand in der zweiten Ausgabe mit einem Text namens „Die Versammlung“, der die programmatische Ausrichtung der Zeitschrift verdeutlicht und zeigt, gegen welche Form von Feminismus sie sich wendet: „‚Die Kritischen Tage’ der Frau in Berlin wollten den Mythos von der großen schöpferischen Mutter unbedingt verbunden sehen mit erdverbundener und urwüchsiger Intellektuellenfeindlichkeit. Die Frau gibt dem Kind den Körper, der Mann gibt den Geist dazu. Der Geist ist daher schlecht.“ Auf einem Symposium 2012, 25 Jahre nach der letzten Ausgabe der „Schwarzen Botin”, hieß es: „In insgesamt 33 Nummern wurde ein herrschaftskritischer, satirisch-feministischer Diskurs etabliert, der heute möglicherweise fehlt.“
26. Petronii Arbitri Satyricon
Gaius Petronius Arbiter
Ledergebundenes Buch
1629
Affekt: Begehren
Dieses Buch satyrischer Abenteuer wurde ursprünglich im späten ersten Jahrhundert von dem römischen Höfling Gaius Petronius Arbiter geschrieben. Das Werk ist einer von nur zwei erhaltenen römischen Romanen (und dabei der am besten erhaltene) und beschreibt detailliert die Abenteuer des Erzählers Encolpius und seines Sklaven und Freundes Giton, eines gutaussehenden Jünglings. Das Satyricon ist voller Orgien, politischer Satire, obszönem Humor, übersinnlicher Erzählungen und Trunkenheit. Seit langem hat es einen Einfluss auf homosexuelle und andere avantgardistische Subkulturen. 1969 drehte Federico Fellini seinen gleichnamigen omnisexuellen Film. Diese Ausgabe von 1629 ist das älteste Objekt in der Sammlung des Schwulen Museums.
27. „Animals love maneaters” (Werbung für den „Lion Pub” in San Francisco, CA)
Richard Roesener alias Dale Hall
Bleistift auf Papier
San Francisco, USA, ca. 1970
Affekt: Begehren
Diese bemerkenswerte, alt-meisterliche Zeichnung eines Löwen, der sich im Koitus mit einem auf dem Bauch liegenden Mann befindet, gehört zu einer Serie solcher Zeichnungen des San-Francisco-Künstlers Richard Roesener. Roesener war einst wissenschaftlicher Chef-Illustrator im berühmten Field Museum in Chicago und arbeitete vor seinem Tod durch eine AIDS-Erkrankung im Jahr 1985 unter dem Namen Dale Hall für schwul-erotische Zeitschriften wie „Blueboy” und „In Touch for Men”. Diese Zeichnung warb für eine Bar in Pacific Heights, San Francisco, namens „Lion Pub” – eine so genannte „Farn-Bar”, die mit großen Pflanzen dekoriert war und eine der ersten Schwulen-Bars war, die in San Francisco außerhalb von solchen Gegenden wie dem Castro und South of Market eröffnet wurden. Ron Williams, der Autor des Buches „San Francisco’s Native Sissy Son”, erinnert sich, dass „der Besitzer sehr geil und gut aussehend war… die Bar hatte einen harten Start wegen des Konkurrenzdrucks, der zu dieser Zeit im Castro herrschte. Sie haben viel Werbung gemacht. Das Plakat mit dem Löwen wurde zu einer sehr beliebten Ikone“. Begleitet von dem Slogan „Tiere lieben ‚Männerfresser’ (maneater): wo das nächtliche Denken täglich um 17 Uhr beginnt”, wurde das Bild durch Plakate und T-Shirts weit verbreitet.
28. Drummer
(Sammlung Zeitschriften)
Magazin
San Francisco, USA, 1983
Affekt: Begehren
Drummer, das führende Magazin für die Subkulturen rund um die Themen schwuler Leder- und S/M-Sex, begann 1975 als ein Newsletter für die Schwulenbewegung. Drummer hatte immer einen politischen Aspekt und war eine der wenigen schwulen Porno-Publikationen dieser Zeit, die unabhängig waren, Schwulen gehörte und von ihnen betrieben wurde. Die Titelbilder wurden von ganz verschiedenen Fotografen – von Unbekannten bis hin zu berühmten Künstlern wie Robert Mapplethorpe – fotografiert, die Hefte enthielten Abbildungen von Kunstwerken von Tom of Finland und vielen seiner Zeitgenossen; und Texte, die von Leder-Koryphäen wie Larry Townsend (Autor des „Leatherman’s Handbook”), Jack Fritscher, Gayle Rubin, Samuel Steward und Schriftsteller_innen, auf die man nicht unbedingt gekommen wäre, wie der berühmten Erotik-Thriller-Schreiberin Anne Rice, verfasst wurden. Obwohl sich die Zeitschrift als ein Magazin „für den männlichen Macho” präsentierte, war ihr Blick auf die Männlichkeit oft viel komplizierter, als man zunächst annehmen könnte. In diesem faszinierenden Briefwechsel von 1983 schreibt ein Leser, dass er sich und seine bigotte Intoleranz mit dem Magazin gegen feminine Schwule verbünden möchte. Die Redakteure, die seinen Wunsch abweisen, antworten mit „ein wenig Geschichte (weil es auch Ihre eigene Geschichte ist)” und berufen sich auf die Anwesenheit und die führende Rolle von „street queens” und femininen Schwulen bei den Stonewall Riots und anderen entscheidenden Momenten der Schwulenbewegung. Sie kommen zu dem Schluss, dass „Ledermänner vielleicht doch viel mehr mit ‚Queens’ gemeinsam haben, als es ihnen selbst lieb ist ist”.
29. MSC Berlin Aufnäher
(Sammlung Buttons)
Stoff
Berlin, DE, ca. 1980er Jahre
Affekt: Begehren
Die Ledersex-Bewegung, eine Subkultur von Queers, die sich um die erotische Semiotik von Leder und anderen Formen von Fetischkleidung drehte, begann sich in den urbanen Zentren Europas und der Vereinigten Staaten Mitte des 20. Jahrhunderts in kohärenten Communitys zu organisieren. Schwule Motorradclubs waren während des gesamten 20. Jahrhunderts eine der wichtigsten Organisationsformen für Leder-Communitys; der erste schwule Motorradclub in den Vereinigten Staaten, die Satyrs, 1954 in Los Angeles gegründet, ist immer noch aktiv. Schwule Motorradclubs bieten ein Ventil für Sozialisierung – und oft auch für Sex. Während schwule Motorradfahrer aus der Mitte des Jahrhunderts die stereotypen schwulen Verweichlichung der damaligen Zeit vermieden, waren ihre Veranstaltungen oft von einer ganz eigenen Art von Prunk und Camp geprägt. Dazu gehörten auch Drag-Shows. Während die frühen schwulen Motorradclubs ausschließlich Männern vorbehalten waren, machten sich auch einige Lesben den Lebensstil zu eigen und gründeten Frauenclubs wie die „Moving Violations” in Boston (1985) und die „Sirens” in New York City (1986). Dieser Patch des Berliner Motorradclubs ist ein großartiges Beispiel für die klassische schwule Motorradästhetik.
30. Le Fleau Social
Front homosexuel d’action révolutionnaire
Zeitung
Paris, FR, 1972
Affekt: Wut
„Front homosexuel d’action révolutionaire” (FHAR) war eine 1971 in Paris gegründete lose Vereinigung zwischen Lesben und Schwulen. Zu ihren Mitgliedern gehörten der Schriftsteller und Theoretiker Guy Hocquenghem, die Kommunistin und Begründerin des Begriffs „Ökofeminismus” Françoise d’Eaubonne, die materialistische feministische Soziologin Christine Delphy und der französische Anarcho-Kommunist Daniel Guérin. Sie brachen mit früheren homosexuellen Gruppen, die mehr aus dem Versteck heraus agierten, und forderten die Zerstörung des bürgerlichen und hetero-patriarchalen Staates und der Gesellschaft. Ihre Parole war: „Arbeiter der Welt, holt euch einen runter!” Die Gruppe blieb nur für kurze Zeit zusammen, bevor sie wegen der Kritik lesbischer Teilnehmerinnen, die Männer seien nur daran interessiert, miteinander zu flirten, aber auch wegen taktischer und politischer Meinungsverschiedenheiten zwischen verschiedenen anderen Fraktionen auseinanderbrach. Die Zeitung „Fleau Socia”, was soviel bedeutet wie „die soziale Geißel”, wurde im Juni 1972 von Mitgliedern der FHAR, darunter d’Eaubonne, Pierre Hahn und Alan Flieg (der ihr Chefredakteur wurde), herausgegeben; stark von den Situationisten beeinflusst, prangerte dieses Kollektiv linke politische Organisationen an, die in der „Mistgrube” der Heterosexualität steckten, und begann, die anwachsenden kommerziellen schwulen Ghettos in den Städten als „die Unterwerfung der Libido unter das Gesetz des Wertes” zu verurteilen.
31. Sex Graffiti, TU Berlin
Wilfried Laule
Schwarz-Weiß-Foto
Berlin (West), DE, ca. 1980
Affekt: Begehren
Für schwule Männer waren öffentliche Toiletten Treffpunkte für Sex. Sogenannte „Klappen“, wie sie auch in Frank Ripplohs Film „Taxi zum Klo“ (1981) zur Kulisse des Films gehörten, gibt es aber immer weniger. Dating-Apps haben diese Schauplätze meistens anonymer Begegnungen fast überflüssig gemacht. Stattdessen verbringen schwule Männer jetzt Stunden vor dem Bildschirm, auf der Suche nach Sex. Auf den Klappen damals wurde die Wartezeit oft kreativ genutzt. Nicht nur Kritzeleien mit Namen, sexuellen Vorlieben, Zeitpunkt und Telefonnummern zierten die Toilettenwände, sondern auch pornografische Zeichnungen: Ärsche, Schwänze, Sex in allen Stellungen. Aus Langeweile oder um die Lust am Laufen zu halten, wurden hier erotische Fantasien verewigt. An manchen Orten findet man noch die verblichenen Reste davon, Spuren einer untergegangenen Subkultur, aus einem anderen Zeitalter. Diese Aufnahme hier hat Wilfried Laule zur Hochzeit des Toilettenbetriebs um 1980 herum in der Mensa der TU Berlin gemacht. Die war damals berühmt dafür, manche Gelegenheit für eine schnelle Nummer zwischendurch zu bieten.
32. Kleid
José Sarria
Stoff, Modeschmuck
San Francisco, USA, Datum unbekannt
Affekt: Wut
Jose Sarria (1922-2013), auch bekannt als „The Grand Mere, Absolute Empress I de San Francisco” und als die „Witwe Norton”, war ein Schwulenaktivist, der Geschichte schrieb, indem er als erster offen Schwuler in den Vereinigten Staaten ein politisches Amt anstrebte. Sarria wurde in San Francisco geboren und diente während des Zweiten Weltkriegs in der US-Armee. Er war ein häufiger Besucher und Performer im „Black Cat”, einer Schwulenbar in North Beach, San Francisco, und begann dort in den 1950er und 1960er Jahren mit extravaganten Drag-Shows. Sarria war bekannt dafür, satirische Coverversionen von populären Liedern zu singen, und er forderte die Gäste des „Black Cat” oft auf, sich zu outen, indem er rief: „Vereint sind wir stark, alleine kriegen sie uns einen nach dem anderen”. 1961 kandidierte Sarria für das Amt des Bezirksleiters in San Francisco. Aus Angst vor einem Sieg rekrutierte die Führung der Demokratischen Partei fast zwei Dutzend Kandidaten, die gegen Sarria kandidierten. Bei den Wahlen belegte Sarria schließlich den neunten Platz. Seine Niederlage hinderte ihn jedoch nicht daran, sich politisch zu betätigen. 1960 war er ein großer Befürworter der „League of Civic Education”, einer Organisation, die sich dafür einsetzte, dass der Alkoholausschank an LGBTQIs legalisiert wurde. Er sammelte Geld für die „Society of Individual Rights”, eine der ersten Schwulengruppen, und legte den Grundstein für den „Imperial Court”, eine internationale Hilfsorganisation, die Geld für die Produktion von Drag-Shows sammelt.
33. Klitorisbilder. Wir machen uns ein Bild von uns (Reproduktionen von Kalenderblättern)
Dorothee Linde und Marianne Heinke
(Archivleihgabe von Ulla Fröhling)
Vergrößerte Fotos
Hamburg, DE, 1978
Affekt: Begehren
Diese Reproduktionen sind Teil eines Kalenders, der 1978 von einer Gruppe von lesbischen Aktivistinnen um Dorothee Linde und Marianne Heinke produziert wurde. Selbstdarstellungen weiblicher Genitalien und ihre Aneignung als Quelle der Lust und von Selbstvertständnis waren zentrale Bestandteile der Frauen- und Lesbenbewegung. Hier ist ein Auszug aus der Einleitung des Kalenders: „Wir sind vier Lesben. Unsere Gruppe ist entstanden, als eine von uns beim Onanieren merkte, dass sie sich kein klares Bild von ihrer eigenen Klitoris machen konnte. Sie versuchte, sie zu zeichnen, und kam schließlich darauf, sich zu fotografieren. Einige Tage später zeigte sie uns die Bilder. Wir fanden es unheimlich aufregend, eine Klitoris aus dieser Perspektive so vergrößert zu sehen. Keine von uns konnte sich erinnern, jemals ein Bild von einer Klitoris gesehen zu haben. Wie wohl unsere eigene aussah? Marianne konnte es nicht glauben: ‘Ganz anders als meine Klitoris. Ihr habt sicher den Apparat falsch gehalten.’ Erst als eine weitere Frau Fotos von sich machte, war sie überzeugt. Wieder anders. Wir standen in der Dunkelkammer und konnten uns vor Freude über jedes neue Foto kaum einkriegen….Wir spüren immer mehr, wie sich unser ganzes Selbstbild verändert: Wir werden selbstbewusster.”
34. Von Besucher*innen ausgefüllte Snap-Formulare aus der Ausstellung „Love at First Fight!“
Schwules Museum
Berlin, DE, 2019-2020
Affekt: Wut
Im Rahmen der Ausstellung „Love at First Fight! Queere Bewegungen in Deutschland seit Stonewall“ wurden Besucher_innen gebeten, ihre „Snap-Momente“ zu teilen. „Snap“ kann das Geräusch sein, das zwei Finger beim Schnippen machen, oder die Bewegung eines Zweiges, der unter Spannung steht und losgelassen wird. Diese Bilder benutzt die feministische Aktivistin und Wissenschaftlerin Sara Ahmed, um Momente im Leben von Menschen zu beschreiben, in denen sie merken, dass es „reicht“ – der Moment, in dem sich etwas löst, was sich vielleicht schon lange aufgebaut hat, aber dessen Vorlauf nicht wahrgenommen wurde. In der Ausstellung haben überwältigend viele Besucher_innen ihre persönlichen Snap-Momente geteilt. Entstanden ist eine Sammlung aus widerständigen, humorvollen aber auch traurigen Geschichten. Ein Auszug davon wird hier präsentiert.
35. Karikaturen über die Homo-Ehe
Klaus Stuttmann – Die Tageszeitung
Dieter Zehentmayr – Berliner Zeitung
Berlin, DE, ca. 2000er Jahre
Affekt: Wut
Ist die Homoehe ein mächtiges Instrument der Normalisierung, das einen heterosexuellen Lebensstil für Lesben und Schwule propagiert, oder genau das Gegenteil davon, nämlich das Queeren der Paarideologie und damit das Ende heterosexistischer Herrschaft? So oder so ähnlich liefen die politischen und queertheoretischen Debatten zur Homoehe. Die Angst, dass die Homoehe das Ende der Heterosexualität einläute, ist auch vielen der Karikaturen zum Thema abzulesen. Die Drohkulissen, die hier humoristisch skizziert werden, sind bisher aber nicht eingetroffen. Heterosexualität gibt es noch. Queere Promiskuität übrigens auch. Heißt das, die Angelegenheit sollte doch in erster Linie pragmatisch betrachtet werden? Wer will, kann ja heiraten.
36. (1) Die Homosexualität des Mannes und des Weibes
Dr. Magnus Hirschfeld
(Sammlung §175)
Buch
Berlin, DE, 1914
(2) An die gesetzgebenden Körperschaften des Deutschen Reiches, Petition des Deutschen Reiches
(Sammlung §175)
Dokument
Berlin, DE, 1897
(3) Rede von August Bebel im Reichstag
(Sammlung §175)
Dokument
Berlin, DE, 1898
Affekt: Wut
Zusammen dokumentieren diese drei Quellen sowohl die Theorie als auch die Praxis der homosexuellen Emanzipationsbewegungen während der wilheminischen Zeit und der Weimarer Republik in Deutschland. Sie zeigen eine Bewegung, die, so die Historikerin Laurie Marhoefer, „eine besondere Art der sexuellen Freiheit schuf, eine, die eine Mehrheit der Menschen befreite und gleichzeitig eine widerspenstige Minderheit in ihren Rechten beschnitt”. Magnus Hirschfeld, ein jüdischer Sexualwissenschaftler und Arzt, war ein offen schwuler Aktivist für homosexuelle und transgender Menschen. Sein Hauptwerk, dieses Buch, legte eine Theorie der „sexuellen Zwischenstufen” dar, die sich auf das auswirkte, was wir heute „Sex” („biologisches Geschlecht”) und „Gender“ („soziales Geschlecht”) nennen würden. Diese Theorie wurde Mitte des 20. Jahrhunderts durch Modelle ersetzt, die auf sexueller Orientierung basierten, und die für die meisten Homosexuellen weniger mit Gender zu tun hatten, d.h. in diesen Ansätzen führt Homosexualität nicht unbedingt zu einer Befragung von Gender und Sex. In letzter Zeit wurde Hirschfelds Theorie von queeren Wissenschaftler_innen sowohl in positiver als auch negativer Hinsicht neu bewertet. Hirschfelds „Wissenschaftlich-humanitäres Komitee” organisierte Petitionen an das Deutsche Parlament, die von vielen namhaften Persönlichkeiten unterzeichnet wurden; zu seinen Unterstützer_innen gehörte der Sozialdemokrat August Bebel, der 1898 diese Rede vor dem Reichstag hielt, um die Entkriminalisierung der Homosexualität zu unterstützen. Diese Bewegung hatte im Jahr 1929 auch fast Erfolg, als der Reichstag der Entkriminalisierung der Sodomie nahe kam, aber schärfere Strafen gegen männliche Sexarbeiter vorschlug; während Hirschfeld diesen Kompromiss unterstützte, verurteilten einige Mitglieder mit engeren Verbindungen zur Kommunistischen Partei, wie Kurt Hiller und Richard Linsert, diesen Kompromiss und lehnten den Gesetzesvorschlag ab.
37. Kostüm aus dem Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation in der er lebt”
Rosa von Praunheim
Stoff, Pailletten
Berlin (West), DE, 1971
Affekt: Wut
Rosa von Praunheims Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation in der er lebt” landete mit einer explosionsartigen Wucht 1971 im westdeutschen Fernsehen. Der Film ist eine hämische, kritische Darstellung von schwuler Kultur mit all ihren Freuden und Fehlern, der eine Reihe von konservativen schwulen Aktivisten schockierte und verärgerte. „Schwule wollen nicht schwul sein, sondern genauso spießig und kitschig wie der Durchschnittsbürger“, ist ein gut im Gedächtnis gebliebenes Zitat aus dem Film. „Da viele Schwule von den Spießbürgern als gestört und minderwertig betrachtet werden, versuchen sie selber noch spießiger zu sein, um ihre Schuldgefühle mit einem Übermaß an bürgerlichen Tugenden zu kompensieren. Sie sind politisch passiv und konservativ, um im Gegenzug nicht zu Tode geprügelt zu werden.“ Bis heute gibt es Konflikte innerhalb schwuler Communities und Institutionen entlang dieser Grabenkämpfe. Rosa von Praunheims Filme werden der Bewegung des „Neuen Deutschen Films“ zugerechnet, sie haben zahlreiche Preise gewonnen und wurden auf Festivals wie der Berlinale und dem Tribeca Film Festival gezeigt.
38. Following Yayoi Kusama
Stef. Engel
Textilobjekt mit Messingkette
DE 2007
Affekt: Begehren
Stef. Engel ist 1969 in Hamburg geboren. Sie studierte Kunst u.a. bei Marina Abramović. Engel arbeitet in verschiedenen Medien, von Bleistiftzeichnungen bis hin zu Videoinstallationen, oftmals zu Gender-Themen. Mit der hier präsentierten Arbeit orientiert sich Stef. Engel an den Werken der Künstlerin Yayoi Kusama (geb. 1929). Kusama gehört zu den bedeutendsten japanischen Künstlerinnen der Nachkriegszeit. Ein Markenzeichen von Kusamas Arbeiten sind farbige Punkte, sogenannte „Polka Dots“, die sie auf Leinwände, Skulpturen und Menschen malt. Charakteristisch für ihr Werk sind auch phallische Stoffwülste, die sie auf den unterschiedlichsten Gegenständen platziert. Von dieser Geste ließ sich Stef. Engel inspirieren. Zu sehen sind hier zwei phallische Stoffwülste – man könnte auch sagen Dildos – einmal fleischfarben, wie mit kleinen Äderchen überzogen, das andere Mal in Gold. Im Schaffensprozess der Künstlerin wird aus der Symbolisierung des männlichen Geschlechtsorgans ein autonomes Objekt, das es erlaubt weibliche Lust spielerisch und kunstvoll unabhängig vom männlichen Körper zu verstehen.
39. Porno-Skulptur
Künstler unbekannt
Gussmetall und Schnur
Deutschland, ca. 1980er Jahre
Affekt: Begehren
Tom of Finlands Zeichnungen gehören zur schwulen Mythologie: Matrosen, Cowboys und Polizisten: Männer in Uniformen, die stolz ihre prallen Ärsche und Beulen präsentieren. Diese sexuelle Selbstdarstellung markiert einen bestimmten Moment schwuler Befreiungsgeschichte: die Aneignung stereotyper Maskulinität als Zeichen sexueller Selbstbestimmung. Dieses Prinzip ist seit Jahrzehnten populär, ein schwuler Klassiker. Im wirklichen Leben, wie auch in der Kunst hat es viele Nachahmer gefunden. So auch diese Skulptur. Beim flotten Dreier zeigen die Kerle offensichtlich sexuelle Lust jenseits aller Schuldgefühle, sie sind schamlose Exhibitionisten. Dreidimensional wird das Plastische der Tom-of-Finland-Ikonografie noch deutlicher: aufgepumpte, voluminöse Männerkörper, stramm und prächtig. In der Fantasie ist hier der ganze Mann zum Phallus geworden. Allerdings ein Phallus, der es nicht auf Machtgewinn abgesehen hat, sondern auf unbegrenzte Lustmöglichkeiten in allen Variationen.
40. „Nur Sophie…” und „Sophie auf der Farm…”, aus der Serie The Farm
Kate Millett
Signierter und nummerierter Offsetdruck (Original: Tinte auf Papier)
New York, USA, 1979
Affekt: Begehren
1971 begann die feministische Autorin und Künstlerin Kate Millett (deren Leben und Karriere an anderer Stelle in dieser Ausstellung am Objekt 59), Grundbesitz in der Nähe von Poughkeepsie, im Bundesstaat New York, zu erwerben und die dazugehörigen Gebäude zu restaurieren. Schließlich verwandelte sie dieses Land in „The Farm”, eine Kunstkolonie für Frauen, zu der auch eine Baumschule gehörte. Dieses kreative Zentrum finanzierte sie durch den Verkauf von Weihnachtsbäumen. Die Kolonie bot den Künstlerinnen einen Ort, an dem sie ungestört arbeiten konnten. Im Jahr 2012 wurde die Kolonie zu einer gemeinnützigen Organisation und wurde in „Millett Center for the Arts” umbenannt. Millett fertigte viele Zeichnungen für ihre Serie „Farm” an. Jede davon war einzigartig, aber alle hatten ähnliche Qualitäten. Es sind klare, subtile und deutlich abstrakte Figurationen des Körpers einer Frau, begleitet von poetischen Texten. Diese sinnlichen Bilder und die sie begleitenden Gedichte suggerieren Geborgenheit und Fürsorge, Zuneigung und Intimität; die Erschaffung einer erotischen und romantischen, lesbischen Welt.
41. Skizze von Männertorso
Touko Laaksonen alias Tom of Finland
Bleistift auf Papier
Los Angeles, USA, ca. 1980er Jahre
Affekt: Begehren
In dieser federleichten, zarten und leichten Skizze von Tom of Finland (1920-1991) deutet sich die Form seiner künftigen Zeichnungen an. Bekannt für sein hochstilisiertes, hypermaskulines homoerotisches Werk war Tom of Finlands Bildsprache mitverantwortlich für die großen Veränderungen in der Auffassung schwuler Subjektivität im 20. Jahrhundert. Er arbeitete einen Großteil seines Lebens in der Werbung, was sich auch in seiner künstlerischen Arbeit niederschlug: Seine Bilder, die in den 1950er und 1960er Jahren in pornografischen Zeitschriften populär wurden, trugen dazu bei, schwulen Männer die Idee schmackhaft zu machen, dass sie Objekte ihrer eigenen sexuellen Begierden sein könnten. Wie alle guten Werbeträger verkaufte er reine Fantasie: unerreichbare Körper, extreme Fetische, Gesichter, die so leer waren, dass der Betrachter sich selbst in das Bild hinein projizieren konnte. Toms Männer waren immer stolz darauf, einander zu lieben, und immer lächelten sie, sie schauten einander immer in die Augen, und immer genossen sie die Gesellschaft des anderen zusammen mit dem erotischen Spiel. Diese Bilder wurden Teil einer Politik der sexuellen Utopie, einer Politik, die die Räume, in denen Sex praktiziert wurde, und auch die Praxis von Sex selbst, als eine Art temporäre autonome Zone entwarf, in der die bedrückenden Verhältnisse der Außenwelt ekstatisch überwunden werden konnten. Diese Skizze wurde dem Museum im April 2018 als Geschenk von Durk Dehner, dem ehemaligen Lover Tom of Finlands, von der Tom of Finland Foundation überreicht.
42. Brief von Roland Loomis (bekannt als Fakir Musafar) an Albrecht Becker mit begleitenden Fotos
(Sammlung Albrecht Becker)
Schwarz-Weiß-Fotos und Brief
Kalifornien, USA, 16. August, 1964
Affekt: Begehren
Albrecht Becker (1906-2002), Hamburger Produktionsdesigner, Fotograf und Schauspieler, erhielt diesen Brief 1964 von Roland Loomis, besser bekannt als Fakir Musafar (1930-2018). Musafar war in den 1970er Jahren Teil der schwulen Leder- und S/M-Bewegung sowie der Radical-Faeries. Darüber hinaus war er einflussreich für die Body-Modification-, S/M- und „modern primitive“-Bewegungen. Als er Becker diesen Brief schrieb, war Musafar jedoch noch als leitender Angestellter tätig. Sein wachsendes Interesse an Ritualen der Körpermodifikation dokumentierte er in Selbstporträts wie diesen. Diese Dokumente offenbaren frühe transnationale Verbindungen in der Body-Modification-Bewegung. Später manifestierten sich diese Verbindungen in der internationalen Verbreitung von Leder-Magazinen wie Drummer (welches ebenfalls in dieser Ausstellung zu sehen ist und Artikel über Musafar und seine Arbeit veröffentlicht hat). [rest ok]Musafar und andere Praktizierende von „primitivistischer“ Körpermodifikationen sind von einigen Wissenschaftler_innen und Aktivist_innen heftig kritisiert worden, weil sie sich schwarze, indigene und andere nicht-westliche Rituale angeeignet haben, die sie oft willkürlich miteinander kombiniert, nicht angemessen respektiert und/oder missverstanden haben. Andere Künstler_innen und in diesem Bereich tätige People of Color arbeiteten aber auch mit Musafar und seinen Kollegen zusammen und bewunderten sie.
43. Zwei Zeichnungen auf Fotografien
Albrecht Becker
Filzstift und Tinte auf Schwarz-Weiß-Foto und Farbdruck
Hamburg, DE, ca. 1970er Jahre
Affekt: Begehren
Albrecht Becker (1906 – 2002) erlernte den Beruf des Bühnenbildners. Das Fotografieren brachte er sich seit seiner Jugend selbst bei. Verhaftet wegen Paragraf 175, saß er 1935 bis 1938 in Nürnberg im Gefängnis. Ab 1940 arbeitete er dennoch für die Wehrmacht und war u.a. in Polen und Russland im Einsatz. Dort machte er Fotos von Kameraden. In dieser Zeit begann Becker auch, sich für das Tätowieren zu interessieren, zunächst am eigenen Körper. „So entdeckte ich das Tätowieren als Ersatz für fehlenden Sex“, sagte er später selbst. Nach dem Krieg zog Becker nach Hamburg. Die Dokumentation von tätowierten Körpern stand nun ganz im Mittelpunkt seines fotografischen Projektes. Sein eigener Körper wurde nach und nach von Tattoos bedeckt; genauso interessierte er sich für die Tattoos seiner Freunde und Lover, wie dieses Bild seines Gärtners zeigt. Zu Beckers Verfahren gehörte es auch, die Bilder dann nachträglich mit Ornamenten und Mustern zu überziehen, so wie hier im Fall einer idyllischen Liebesszene, die von Becker zusätzlich erotisiert wird.
44. Pornoalbum
Siegmar Piske
Fotocollage
Berlin (Ost), DE, 1975-1985
Affekt: Begehren
Die Sammlung Piske war eine der ersten Nachlässe, die das SMU als ganzes überantwortet bekam. Von KPM-Geschirr und handbestickten Geschirrtüchern über Kupfer-Repliken griechischer Athletenstatuen bis zu neun Umzugskisten voll mit Porno-Videos umgab sich Siegmar Piske mit einer Unzahl an Dingen. Der Kunsthistoriker Boris von Brauchitsch schrieb: „In der Wohnung von Siegmar Piske zeichnete sich das Bild einer ganzen, allmählich aussterbenden Generation ab, die Bewältigung eines Lebenstraums zwischen Ästhetik und Verlangen.“ Viele Stunden verbrachte Piske, der als Verwaltungsangestellter in der Protestantischen Kirche der DDR gearbeitet hat, damit, Bilder aus Magazinen und Pornoheften auszuschneiden und auf Objekten, an den Wänden und in Alben zu collagieren. Er versah sie mit Charakteren und deren Geschichten, die er zu seinem eigenen Vergnügen mit großer Akribie entwarf. Diese selbstgemachten Pornobildergeschichten á la Bravo-Fotolovestory, voll von skurril anmutenden Typenbeschreibungen und einem bizarren Sprachduktus, sind ein Almanach der sexuellen Sehnsüchte schwuler Männer seiner Generation und auch der Geschichte deutsch-deutscher Sexualitäten.