Laufzeit: 11.07. – 30.09.2024
1000 laufende Regalmeter auf über 500 m² Fläche, geschätzt 1,5 Millionen Objekte: Zeitschriften und Zeitungsausschnitte, Videos, Plakate, Fotografien, Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen, Flugblätter, Medikamentenschachteln, Cruising Packs, Feuerzeuge, Buttons, T-Shirts, Kostüme, Perücken, High Heels, Dildos, Lederstiefel, jede Menge Schriftstücke z.B. von homopolitischen Organisationen, ein umfangreicher DDR Bestand aus verschiedenen Provenienzen, die Sammlung Sternweiler mit mehr als 6.000 Objekten v.a. aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das Schwule Museum sammelt seit 1985 zur Kultur und Geschichte von LSBTIQ* Communitys und ist eine der weltweit größten Sammlungen in diesem Feld. Dazu gehören auch umfangreiche Nachlässe und Bestände von Künstler*innen, neben vielen anderen auch die der vier Fotograf*innen, die wir hier vorstellen und deren Arbeiten in der Ausstellung Love At First Fight! eine Rolle spielen: Rüdiger Trautsch, Krista Beinstein, Petra Gall und Jürgen Baldiga.
Kuration: Birgit Bosold und Collin Klugbauer
Petra Gall (1955-2018)
Petra Gall lebte seit 1981 in Berlin und begann als Autodidaktin zu fotografieren. Sie gründete zusammen mit Heidi Zimmermann die Fotoagentur Zebra und arbeitete für Printmedien wie die taz, die Stadtmagazine Zitty und Tip und die feministische Zeitschrift Courage. Sie ist eine wichtige Dokumentarin der (West-) Berliner Frauen- und Lesbenbewegung. Es gibt kaum eine Veranstaltung, Demo oder Protagonistin, die sie nicht fotografisch festgehalten hätte. Ein weiterer Schwerpunkt ihrer Arbeit war die Musikfotografie mit fantastischen Aufnahmen zeitgenössischer Konzerte von Stars wie Nick Cave, Diamanda Galás, David Bowie oder Nina Hagen. Der umfangreichste Bestand stellt die Reisefotografie dar. Ab den 1990er Jahren unternahm Petra Gall ausgedehnte Motorradtouren, besonders durch Osteuropa, aber auch in viele andere Teile der Welt. Sie veröffentlichte zahlreiche Reisereportagen und auch einen Motorradreiseführer für Ostdeutschland. Ihr Nachlass befindet sich seit 2012 in der Sammlung des Schwulen Museums und umfasst insgesamt ca. 200.000 Objekte. Gefördert vom Forschungs- und Kompetenzzentrum Digitalisierung Berlin (digiS) konnten in den letzten drei Jahren ca. 6.000 Negative digitalisiert werden und stehen der Öffentlichkeit online auf der Plattform museums-digital zur Verfügung.
Die Serie “Starke Frauen” dokumentiert den “Campeonato Europeo de Halterofilia de 1990”, die dritte Ausgabe der Frauen-Europameisterschaften im Gewichtheben, die 1990 auf der Kanareninsel Teneriffa stattfand. Erst seit 1987 dürfen Frauen bei Weltmeisterschaften im Gewichtheben antreten, seit 1988 bei Europameisterschaften.
„Starke Frauen”, 1990, Orginalabzüge und Digitalprints
Krista Beinstein (*1955)
1955 in Wien geboren, lebt und arbeitet als Fotografin, Autorin und Performerin seit vielen Jahren in Hamburg. Ihr erstes Buch mit dem programmatischen Titel „Obszöne Frauen“ erschien 1986 und feierte die Lust von Frauen an ihrer Lust. Es gehört zu den frühesten Zeugnissen des sich formierenden Sexpositiv-Feminismus im deutschsprachigen Raum. Ihm folgten bis heute acht weitere Bände, alle erschienen beim Tübinger Konkursbuch Verlag. Ihre Ausstellungen in den 1980er Jahren wurden häufig von Attacken „sex-kritischer“ Feministinnen heimgesucht, die BDSM (Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism) als patriarchale Praxis begriffen und ihre Arbeiten frauenfeindlich fanden. Beinstein ist eine der am meisten unterschätzten Künstlerinnen des queeren Undergrounds: Grande Dame der pornografischen Performance, Enfant terrible der lesbischen Sexkultur und Protagonistin des sexpositiven Feminismus.
„Tittendominanz”, Serie, 1988, Originalabzüge
Rüdiger Trautsch (1946-2021)
Rüdiger Trautsch ist der Chronist der schwulen Kultur. Nach seinem Studium der Visuellen Kommunikation an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg arbeitete er als freier Fotograf, porträtierte die schwule und später auch queere Community, aber auch Berühmtheiten wie Andy Warhol, Meret Oppenheim oder Marianne Sägebrecht. Ikonisch sind seine Fotos der Pfingst-Demonstration 1972 in Westberlin, einer der ersten öffentlichen Kundgebungen queerer Aktivist*innen. 2018 übergab er seinen Vorlass an das Schwule Museum, wo er seitdem aufbewahrt wird. 2023 widmete ihm das SMU eine Werkschau.
Die Serie „In & Out“ zeigt queere Personen in ihrer Wohnung, in Alltagskleidung und in Drag, dem Outfit ihrer Tuntenpersona oder ihres genderqueeren Ichs.
Jürgen Baldiga (1959-1993)
Der Multi-Künstler und Fotograf Jürgen Baldiga wurde 1959 in Essen geboren und starb 1993 in Berlin an den Folgen von AIDS. Baldiga zog 1979 nach Berlin, wo er zunächst als Autor, Performer, Filmemacher und Musiker künstlerisch arbeitete. 1985 kam er als Autodidakt zur Fotografie. Sein fotografisches Werk steht von Anfang an im Kontext seiner im selben Jahr diagnostizierten HIV-Infektion. In nur acht Jahren, von 1985 bis 1993, schafft Baldiga ein Werk, das zu den wichtigsten künstlerischen Auseinandersetzungen mit HIV/AIDS zu zählen ist, und dessen eindringliche Darstellungen von Tod, körperlichem Zerfall, aber auch Lebensfreude und Humor singulär sind. Im Kontext von AIDS und Kunst ist Baldiga in einem Atemzug mit dem US-amerikanischen Künstler David Wojnarowicz und dem britischen Filmemacher Derek Jarman, die ebenfalls in den 1990er-Jahren an AIDS verstarben, zu nennen. Sein Werk ist, zumindest in Berlin, nicht völlig unbekannt. Seine Arbeiten wurden in zahlreichen Ausstellungen und Publikationen präsentiert, großformatige Portraitfotos von Berliner Tunten (und ihm selbst) sind dauerhaft im SchwuZ, dem 1977 gegründeten und bis heute existierenden queeren Club in Berlin, zu sehen. Zwei dokumentarische Filme würdigen Baldiga: Der 2019 erschienene Film „Rettet das Feuer“ von Jasco Viefhues und „Baldiga – Entsichertes Herz“ (2024) von Markus Stein.
Freunde und Liebhaber, Originalabzüge
(Motiv: Ausstellungsdetail „Analog“ & „Love At First Fight“, Foto: Yu Mitomi)