Vernissage: 20. Juli 2017, 18 Uhr
Vor-Eröffnungs-Parade: Treffpunkt vor dem Supermarkt „Speisekammer im Eldorado“, Ecke Motzstraße Kalckreuthstraße, 20. Juli 2017 um 16.30 Uhr
Aus einer postkolonialen Perspektive heraus nimmt die künstlerisch-forschungsbasierte Ausstellung Odarodle – Sittengeschichte eines Naturmysteriums, 1535-2017 erstmals Archivbestände und die Geschichte des Schwulen Museums* Berlin in den Blick. Die Ausstellung lädt ein zum Nachdenken über problematische Zusammenhänge zwischen der musealen Darstellung von Homosexualitäten und den Darstellungsweisen der Ethnologie im Kontext des europäischen Kolonialismus. Odarodle präsentiert Arbeiten von 16 Künstler*innen, die größtenteils in Berlin leben, darunter zehn speziell für die Ausstellung entwickelte Kunstwerke. Das Museum selbst, seine Arbeit und das Archiv bieten sich als ästhetisches Medium an und liefern gleichzeitig zahlreiche Recherchematerialien, die die jeweiligen zeitgenössischen Positionierungen ermöglichen.
Odarodle dreht das Wort „Eldorado“ bewusst um. Dabei bezieht Eldorado sich auf drei unterschiedliche Ursprungsgeschichten: eine zeitgeschichtliche Ausstellung, einen legendären Nachtclub und einen kolonialen Mythos. Auch wenn die Selbstverpflichtung des Schwulen Museums*, die Sichtbarkeit von LGBTIAQ* zu ermöglichen, seiner politischen Agenda angemessen ist, erfordert diese Aufgabe konstante Überprüfung und Reflexion. So möchte Odarodle das für die Moderne grundlegende Verfahren, Lebensweisen, Körper und Lebensräume zur Schau stellen zu wollen, kritisch hinterfragen. Denn hier trifft der Wunsch ethnographischer Museen, Un_Sitten von „Völkern“ und ihre vermeintliche Natur ausstellen zu müssen, auf postkoloniale Infragestellungen: als historisch geschaffener Schauplatz, der versucht das Wesen des sogenannten „Anderen“ darzustellen und damit das „Andere“ als normative Konstruktion aufrechterhält.
Der Ausgangspunkt des Projekts ist die Ausstellung Eldorado: Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1850-1950 – Geschichte, Alltag und Kultur, die 1984 im damaligen Berlin Museum in West-Berlin eröffnete und vom Schwulen Museum* als institutioneller Anfang betrachtet wird. Ausgehend von rechtlichen, medizinischen und literarischen Diskursen über die „Natürlichkeit“ von Sexualitäten und das gleichgeschlechtliche Begehren als „Identität“, legte die Ausstellung Eldorado ihren Fokus auf das kulturelle und soziopolitische Klima der 1920er und 30er Jahre in Berlin. Dokumente, Fotographien, Stiche und Gemälde wurden in Vitrinen und auf thematisch angeordneten Tafeln ausgestellt, während mit alltäglichen Gebrauchsgegenständen eine Umgebung erschaffen wurde, die eine „reale“ Atmosphäre vermitteln sollte – das Boudoir für schwule Männer*, das Café für Lesben*, die Cruising Area im Tiergarten.
Der Titel der Ausstellung bezog sich auf das berühmte Kabarett Eldorado, das als erstes seiner Art 1926 in der Martin-Luther-Straße in Berlin eröffnete und ein zweites Lokal 1928 an der Ecke Motzstraße-Kalckreuthstraße gründete. Bekannt war der Nachtclub für seine extravaganten „Travestieshows“, in denen Männer* als Frauen* verkleidet auftraten. Das Eldorado galt als sexuell und politisch diverser Begegnungsort, an dem Ortsansässige und Zugereiste zusammen kommen und feiern konnten. Das Lokal wurde zur symbolischen Heimat queerer Einwohner*innen Berlins, die wenig später mit der Machtergreifung der Nationalsozialist*innen jedoch als „entartet“ – als widernatürlich – galten.
Solch Rassismus und Gewalt gegen die oder eine konstruierte Andersartigkeit sind nicht einfach aus dem Nirgend_Wo entstanden: vielmehr griffen sie die Widersprüche der kapitalistischen Moderne auf und verstärkten sie, insbesondere aufgrund der instabilen Kategorie „Natur“. Was die Ausstellung Eldorado ignorierte, nimmt Odarodle nun auf – die „Geschichten der (Homo)Sexualitäten“ sind tief verwoben mit Konzepten der Naturgeschichte. Hier schließlich taucht das dritte Eldorado – der koloniale Mythos – auf. Schon ab dem 16. Jahrhundert zeugen europäische Quellen von einer verschollenen Stadt aus Gold, im Norden Amazoniens an den Ufern des Orinoco Flusses gelegen. Diese Gerüchte befeuerten einen Wettlauf um Reichtum, Macht und Land. Die dort lebenden Wesen und ihre Umwelten wurden von Kolonisator*innen als „Andere“ wahrgenommen, exotisiert und erotisiert: Menschen und Nicht-Menschliches wurden als Proben dokumentiert und zu Forschungs- und Ausstellungszwecken, ferner zur Unterhaltung der Massen, nach Europa gebracht. Gleichzeitig wurden diese sogenannten „Naturvölker“ und ihre Körper, Begehrens-, und Verwandtschaftsformen auf brutale Art und Weise als anders, abnormal, primitiv und fremdartig gekennzeichnet.
Odarodle legt die Anachronismen der drei Eldorados in einer Serie von Inszenierungen dar, in die die Kunstwerke sorgfältig eingebettet sind. Statt Kulturgeschichte didaktisch zu erzählen, wählt die Ausstellung künstlerische Forschungsarbeiten und damit eine sinnliche Form des Nachdenkens das zugleich unterschiedliche Perspektiven und ungelöste Fragen erlaubt. Was sind Probleme und Potenziale der Selbstrepräsentation? Wie wäre ein „queeres Museum“ der Zukunft, dass in der Lage wäre Geschichte(n) vom Sonst_Wo und Sonst_Wie in einer Art und Weise zu versinnbildlichen, die die Darstellung des Seienden erschwert?
Odarodle – Sittengeschichte eines Naturmysteriums, 1535-2017 wird von einem öffentlichen Programm begleitet, das Performances, Interventionen, Rituale, Filme und Diskussionsrunden beinhaltet sowie eine umfangreiche Forschungspublikation. Zudem wird im September ein dreitägiges Symposium stattfinden, das Raum gibt für Diskussionen und Experimente zu Fragen, Ideen und Konzepten des Projekts.
Kurator*: Ashkan Sepahvand
Beteiligte Künstler*innen: George Awde, Daniel Cremer, Naomi Rincon Gallardo, Vika Kirchenbauer, Sholem Krishtalka, Renate Lorenz und Pauline Boudry, Lucas Odahara, Babyhay Onio, PPKK (Schönfeld und Scoufaras), Benny Nemerofsky Ramsay, James Richards und Steve Reinke, Emily Roysdon, Dusty Whistles.
Architekt*: Diogo Passarinho Pereira. Grafikdesigner*: Michael Oswell.
Produktionsmanager*innen: Tomka Weiss und Alexia Apollinario. Projektassistentin*: Saida-Mahalia Saad, Projektmentorin*: Birgit Bosold
SAVE THE DATE: 14. – 16. September 2017 / ein Symposium mit beteiligten Künstler*innen und Gäste, darunter Rudi C. Bleys, Nanna Heidenreich, Margareta von Oswald, Andrea Rottmann, Vivian Ziherl, u.a.
Gefördert im Programm Fellowship Internationales Museum der
Präsentiert von SIEGESSÄULE – We are queer Berlin: