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Queer City: Geschichten aus São Paulo

19. Oktober 2017 – 8. Januar 2018

Das Wort „queer“ wurde 2017 offiziell in den Duden aufgenommen. Es bezeichnet eine Person, die „in der Geschlechtsidentität von einer gesellschaftlich verbreiteten heterosexuellen Norm“ abweicht. Solche Abweichung – oder die Möglichkeit, Räume für solch abweichende Entfaltung zu bieten – zelebrieren etliche Städte seit langem als Qualitätsmerkmal. 1993 startete in Leipzig die Zeitung Queer als „Fachblatt für Subkultur“ und suggerierte, die boomende Studentenstadt im Osten wäre besonders offen für nichtheteronormative Lebensweisen. 2005 nannte sich das schwul-lesbische Szenemagazin Siegessäule plötzlich „queer in Berlin“; auch hier wird die Queer Community als wichtiger Teil der coolen deutschen Hauptstadt zelebriert – und als mehr gesehen, als nur eine historische schwul-lesbische Gemeinschaft. Historiker Peter Ackroyd veröffentlichte 2017 das Buch Queer City als Geschichte von Gay London from the Romans to the present day, genau in dem Moment, wo in der britischen Hauptstadt eine nie zuvor dagewesene Fülle an Ausstellung zu LGBTIQ*-Geschichte und Kunst zu sehen war und Touristen aus aller Welt anlockte. Für viele – besonders in der Tourismusindustrie und Politik – ist Queer-Sein zum Symbol für eine offene, tolerante, bunte und zukunftsorientierte Gemeinschaft geworden.

Eine bedeutende queere Community lebt in São Paulo, der größten Stadt Lateinamerikas mit über 20 Millionen Einwohner_innen (in der Gesamtregion). Diese Community ist sehr viel gemischter als die meisten entsprechenden Communitys in Europa und Nordamerika, speziell was ethnische Gruppierungen angeht. Wie funktioniert in São Paulo das Zusammenleben der verschiedenen Gruppen, in der Vergangenheit und heute? Wie gehen sie mit Rassismus um, wie frei können sie leben in einer Zeit, wo evangelikale Kreise in der brasilianischen Politik immer mehr Einfluss gewinnen und ihre Macht nutzen, um beispielsweise in Brasilien queere Kunstausstellungen vorzeitig zu schließen (wie im September 2017 geschehen)? Was können wir von Stadtentwicklung und -planung lernen darüber, wie man eine ideale Queer Community gezielt aufbauen kann? Wer sind die Protagonist_innen der brasilianischen Queer-Bewegung heute, und wie unterscheiden sie sich von denen der 1960er, 1970er und 80er Jahre, die man in der Doku São Paulo in Hi-Fi sieht? Wieso hat São Paulo seit 2012 ein staatlich gefördertes Museum für sexuelle Diversität, das sich bewusst am Schwulen Museum* in Berlin orientiert? Und wieso ist der Heilige Tibira do Maranhão der erst indigene queere Märtyrer Brasiliens?

Diesen Fragen geht die Ausstellung Queer City: Geschichten aus São Paulo nach.

Sie ist inspiriert von dem Filmprojekt Queer City des Forschungskollektives Lanchonete.org, das seit 2015 besteht. Im Film werden 16 LGBTIQ*-Positionen präsentiert und geben 16 Brasilianer_innen ihre ganz persönliche Definition von „queer“ ab. Für sie ist der Begriff verbunden mit einer Vielzahl von politischen LGBTIQ*-Realitäten, -Geschichte, -Zukunft und -Orten. Der Film Queer City erweitert die Diskussion darüber, wie wir leben und arbeiten, Räume teilen und überleben in einer zeitgenössischen Großstadt. Die brasilianischen Positionen laden zu Vergleichen mit den Positionen in Deutschland ein, besonders in Zeiten heftiger Beißreflex-Debatten.

Die Ausstellung ist auch das Ergebnis einer Einladung des Deutschen Auswärtigen Amts, das erstmals überhaupt ein Museum zu einer Reise nach Brasilien eingeladen hat. Dieses Museum war das Schwule Museum* Berlin, das in São Paulo und Rio de Janeiro Kontakt mit Aktivist_innen, Künstler_innen, Journalist_innen, Filmemacher_innen und Museumskolleg_innen aufnehmen konnte. Viele von ihnen sind nun Teil dieser Ausstellung, als Zeichen einer neuen Vernetzung zwischen Deutschland und Brasilien bei LGBTIQ*-Themen.

Die Ausstellung wird kuratiert von José Gabriel Navarro, Todd Lanier Lester/Raphael Daibert (Lanchonete.org), sowie Dr. Kevin Clarke (Ltg.). Mit Unterstützung des Museu da Diversidade Sexual, São Paulo. Projektleitung: Uta Stapf. Art Director: Martin Hoffmann.