Nach zwei Jahren als Volontärin am Schwulen Museum blickt Jessica Walter auf eine intensive Zeit zurück: sie hat recherchiert, archiviert, organisiert, Workshops gegeben und damit Räume für kreative Selbstdokumentation geschaffen. Im Gespräch erzählt sie, was sie mitnimmt, was bleibt – und warum queere BIPoC eigene Archivstrategien brauchen. Ein Gespräch über Spuren, Leerstellen und die Kraft kollektiver Erinnerung.
Yasmin: Jessica, ich freu mich, dass du vor mir sitzt und mich so bezaubernd anstrahlst! Ist das Ende deines Volontariats ein Grund zum Strahlen? Wie ist das für dich?
Jessica: Sehr spannend! Ich merke gerade, wie viel ich in meiner Zeit am Schwulen Museum gelernt habe und was ich alles mitnehmen werde. Ich bemerke auch, dass ich noch einiges mit euch teilen will, und dass mir so langsam die Zeit dafür ausgeht… Trotzdem freue ich mich auch darauf, einen neuen Pfad einzuschlagen.
Weißt du schon, wo dieser dich hinführt?
Nein. (Beide lachen)
Schade! Dann erzähl mir stattdessen, was du noch versuchst in den letzten Wochen vor deinem Abgang loszuwerden…
Ich habe das Gefühl, dass ich in meinem Volo viel Wissen angesammelt, das ich mir selbst angeeignet habe. Dafür habe ich selbstständig im Archiv recherchiert oder habe mich mit Menschen aus Workshops und Führungen ausgetauscht. Diese Zusammenführungen von Gedanken würde ich gerne noch verstetigen. Dabei denke ich an Verschriftlichungen, oder auch eine kleine Veranstaltung, um zu besprechen, was hier alles gelaufen ist in Sachen Bildung, Archiv, BIPoC…
Dazu gerne gleich mehr, aber zunächst will ich dich fragen: fühlst du dich ermächtigt, nach zwei Jahren Vollzeit im SMU deine Tops & Flops mit uns zu teilen?
Ein großer Flop sind natürlich die Haushaltskürzungen, von denen wir betroffen sind. Ich hätte mir die Möglichkeiten gewünscht, meine Arbeit durch andere Mitarbeitende zu verstetigen. Gerade sieht es nicht so aus, als wäre das finanziell eine Möglichkeit. Und natürlich ist es jetzt, am Ende meines Volos, für meine Zukunftsperspektiven im Kulturbereich ein einziger Flop! Naja… Meine Tops sind auf jeden Fall die wunderbaren Menschen, die ich kennengelernt habe! Der Wissensaustausch hier hat mich wirklich bereichert; mit allen aus dem Team, aber eben auch den Menschen, mit denen ich kreativ war und die ich in meinen Workshops kennengelernt habe. Der Workshop Creating Our Own Pasts war so ein besonderer Raum. Ich war immer wieder begeistert davon, wie großzügig Menschen mit ihren Emotionen und ihrem Wissen umgegangen sind.
Worum ging es bei dem Workshop?
Der Titel kam mir, als ich mich gefragt habe, was passiert, wenn eine Person die eigene Vergangenheit nicht auffinden kann – kollektiv, weil unsere Geschichten nicht richtig dokumentiert worden sind, aber auch individuell: Was machen wir, wenn uns unsere persönliche Geschichte verschlossen bleibt? Und meine Antwort darauf ist eben das Erfinden, das Kreieren einer eigenen Vergangenheit. Dementsprechend war mir bei diesem Workshop sehr wichtig, dass die Teilnehmenden eine eigene Archivpraxis der kreativen Selbstdokumentation entwickeln. Ich habe den Workshop schon mehrmals gehalten und es ergaben sich immer wundervolle Runden mit wahnsinnig kreativem Output.
Gibt es Pläne deinerseits, wie du dem Schwulen Museum über dein Volontariat hinaus erhalten bleiben wirst?
Als Person, die viel mit dem Archiv gearbeitet hat, bleibe ich auf gewisse Weise immer dem Schwulen Museum verbunden: ich lasse Materialitäten hier und verewige sie hoffentlich damit. In dieser Weise bleiben meine Spuren im Archiv… Es bleiben auch andere Spuren im Archiv; falls Menschen suchen wollen, werden sie diese auch finden. (lacht)
Gibt es jetzt etwa das Schlagwort „Walter“? Oder wie finden wir dich im Archiv?
Schön wäre es, nein! Diejenigen die mich kennen werden es spüren, wenn sie das Material sehen, auch wenn es nicht direkt meinen Namen trägt. Ich habe viel archiviert und habe mich damit auseinandergesetzt, dass an bestimmten Stellen Material fehlt. Zum Beispiel unter dem Schlagwort „Gedichte“ habe ich ein paar Gedichte reingegeben, die ich zwar nicht geschrieben habe, aber bei denen ich denke, dass diese in die Ewigkeit gehen sollen.
Alles klar, dann können wir ja auf Schatzsuche gehen… Welche Themen haben sich bei dir in den letzten Jahren durch deine Arbeit hier gesetzt?
Ich reflektiere viel darüber, wie es ist, eine Person of Color in Deutschland zu sein, in einem Staat, der sich immer noch als weiß versteht. Wie kommen wir als People of Color miteinander in Verbindung? Und was bedeutet es hier am SMU, einer weißen Institution, zusammenzukommen? Diese Setzung war gar nicht als aktivistische gemeint! Ich interessiere mich einfach dafür, wie wir unsere persönlichen Geschichten archivieren können. Bewegungsgeschichte ist wichtig, aber ich frage mich eben auch ob und wie sich an uns als Einzelpersonen erinnert wird. Wollen wir überhaupt erinnert werden? Mir kam diese Idee einmal, als ich einen Nachlass durchgesehen habe und unter anderem Zeichnungen aus der Kindheit einer Person gefunden habe. Da musste ich mich fragen, wie das wohl wäre, wenn Menschen aus der Diaspora solche Zeichnungen noch hätten – viele haben sie eben nicht mehr, weil sie umziehen mussten, sei es aus einem anderen Land oder wegen prekären Lebenssituationen. Die andere Sache ist, dass viele von uns so sozialisiert worden, dass wir uns selbst gar nicht so ernst nehmen, um solche Papiere zu behalten und aufzubewahren. Naja, und anstatt gegenüber dieser Person, auf die ich im Archiv gestoßen bin, ein Ressentiment zu spüren, dass sie einen anderen Lebensstil hatte, dass sie noch ihre Kindheitszeichnungen hat, habe ich beschlossen, da so ex negativo nachzudenken: Warum machen wir das nicht einfach auch? Und das ist etwas, was ich gerne in meinen Workshops vermittle.
Wer ist das „wir“, von dem du sprichst?
Wenn ich von „wir“ spreche, meine ich nicht nur Menschen, die ich kenne oder die ich noch kennenlernen werde, sondern auch Menschen, die sich in dieser Welt aufgrund ihrer Positionierung als BIPoC oder diasporisches Subjekt immer so fühlen, als würden sie gegen all diese Probleme, die ich eben angesprochen habe, ankämpfen. Ich halte den Begriff gerne etwas vage, damit sich nicht nur Menschen angesprochen fühlen, die sich jetzt schon dazuzählen, sondern auch neue Leute, die diese Erfahrungen teilen, aufgefordert werden, dazuzukommen.
In dem Zine „Writing the Archive #2“, das du zusammen mit Wassan Ali und dem Spinnboden Lesbenarchiv erarbeitet hast und das vor kurzem erschienen ist, geht es auch im BIPoC und Zugänge zum Archiv. Kannst du darüber sprechen, wie das zustande gekommen ist?
Das Zine ist das Ergebnis zweier Workshops, die hier im SMU-Archiv und im Spinnboden Lesbenarchiv stattgefunden haben. In diesen ging es eben genau um diese Fragen, aber auch darum zu schauen, was für Materialien wir überhaupt in den Archiven haben, die zu BIPoC sprechen. Das Ergebnis dieser Gedankengänge zeigt deutlich, dass wir eine kreative Praxis brauchen, um uns mit dem Archiv auseinanderzusetzen. Das heißt: wir können und sollen immer unsere Flyer und Sticker archivieren, aber wir müssen auch kommentieren, was in diesen Archiven los ist. Auch wenn es queere Archive sind, reproduzieren sie oft die Strukturen der breiteren Gesellschaft, wenn es um Mehrfachmarginalisierung geht. Das Wunderbare an diesem Zine ist, dass die Teilnehmenden der Workshops Beiträge dafür geschrieben haben. Dabei sind unterschiedliche Dinge herausgekommen, wie Essays, Gedichte und Kollagen, alle sind sie aber Formen der Reflektion. Diese Beiträge wirken auf zwei Wege: zum einen halten sie das Gefühl fest, das wir haben, wenn wir das Archiv betreten und diese Leerstellen feststellen. Der andere Weg betrifft das Spuren-Hinterlassen. Es erweitert auch den Archivbegriff; das Zine selbst ist natürlich Archivmaterial, es liegt bei uns und bei anderen Archiven, Menschen können es sich kostenlos nehmen und in ihre eigenen Archive stecken. Aber an sich ist das Zine selbst auch ein Archiv, da es von verschiedenen Personen mit diversen Positionalitäten Beiträge sammelt. Wir haben gesammelt und zusammengetragen. Klar steht das ganze Ding unter dem Banner QTBIPoC, aber inhaltlich ist es sehr divers.
Das stimmt, das hat sich auch in der Veranstaltung gezeigt, die ihr in der Amerika-Gedenkbibliothek abgehalten habt.
Ja, uns war es wichtig unser Wissen und unsere Gedanken zum Archiv nicht nur im Rahmen von geschlossenen Workshops zu behalten, sondern sie auch öffentlich zugänglich zu machen. Klar gibt es Aspekte davon, die immer in diesen geschlossenen Räumen bleiben, wir haben sie ja nicht grundlosgeschaffen. Aber am Ende des Tages geht uns das alle an, es ist kein Nischenthema. Deshalb wollten wir eben auch öffentlich darüber sprechen und haben das im wunderschönen Pop-Up Saal der ZLB getan, mit einer Lesung dreier Beiträge und moderierten Gesprächen mit Jin Haritaworn.
Konntest du aus der Kooperation mit dem Spinnboden Lesbenarchiv Erkenntnisse über die jeweiligen Archive gewinnen?
Ja, ich denke schon. Obwohl beide Institutionen sich heute als ‚queer‘ verstehen, haben den Namen nach spezifische Identitäten: lesbisch und schwul. In meiner Wahrnehmung gibt es im Archiv des Schwulen Museums viel mehr Material, das den nicht-weißen Körper fetischisiert. Es ist besonders in der Porno- und Zeitschriftensammlung ersichtlich, dass der nicht-weiße, männliche Körper für den weißen Blick dargestellt wird. Das heißt, bei uns gibt es in gewisser Weise eine Repräsentanz, die es im Spinnboden nicht gibt (lacht). Meines Wissens zumindest nicht. Was ich am Material des Spinnbodens interessant fand, ist, dass lesbische Geschichte dokumentiert wird und darunter ganz klar auch die Bewegungen der afro-deutschen Frauen verzeichnet sind. Auch aus globaler Sicht hatte ich das Gefühl, dass es im Spinnboden mehr Material gibt, in dem FLINTA Personen über sich selbst sprechen – ich würde aber nicht meine Hand dafür ins Feuer legen. (beide lachen)
Ich bewundere an dir, wie warm du mit Archiven umgehen kannst. In dem Zine Writing the Archive #2 gibt es ja auch einen Beitrag von dir, in dem du dich dem SMU-Archiv strategisch affektiv näherst. Wie hat sich das entwickelt?
Das hat auf jeden Fall mit meiner Archiv-Origin-Story zu tun: als ich das erste Mal für mich selbst im Archiv recherchiert habe, wollte ich so zurück-zu-den-Wurzeln-mäßig etwas über meinen Geburtsort finden: Indien. Irgendwie hatte ich die Erwartungshaltung, dass ich Material finden würde, dass zu mir spricht. Das etwas beschreibt, was ich verstehe oder das irgendwas an meiner Lebensrealität darstellt. Was mir tatsächlich begegnet ist, ist die Fülle an Material, die ich auch in meinem Text beschreibe: es ist Material, das einen weißen, deutschen Blick auf den Subkontinent wirft. Er sieht sich die Gemeinschaften dort an, verurteilt und pathologisiert sie, manchmal kriminalisiert er sie sogar. Deshalb war mein erstes Gefühl Schmerz. Ich habe Schmerz empfunden, dieses Material zu sehen. Also habe ich mich gefragt, was hier eigentlich archiviert ist und kam zu dem Schluss, dass Menschen, die dieses Material ansehen würden, weil sie Interesse an Queerness in Indien haben, alle den gleichen Schmerz empfinden würden. Ich weiß, das ist utopisch, aber in dem Moment habe ich mich gefragt, ob dieser Schmerz dann nicht auch mitarchiviert ist. In meinem Text schreibe ich von Zärtlichkeit, Freude, Spaß und Trauer, und frage mich, wie wir diese Gefühle archivieren; sind sie nicht Teil des Archivs, wenn das Material diese Gefühle in anderen hervorruft?
Du schreibst auch: „I selected the words and pieced together the sentences intuitively from various articles I didn’t really read, just skimmed for phrases that spoke to me.“ Du nimmst damit Bezug auf den Prozess den du durchläufst, wenn du mit Archivmaterial an deinen Collagen arbeitest.
Genau, dieses fragmentarische Arbeiten ist auf jeden Fall auch eine Strategie, die ich mir als BIPoC in weißen Archiven erarbeitet habe. Für mich liegt die Kunst darin, durch das Meer an Material zu gehen, dass im Prinzip die Konsequenz von Unterdrückung darstellt, und Kleinigkeiten zu finden, die mir Hoffnung und Freude bringen können. Insgesamt ist genau das eine Lebensstrategie für queere BIPoC in dieser Welt: wir müssen Momente finden, die uns Freude bringen, auch wenn wir sie dabei ein bisschen aus ihrem Kontext herausnehmen oder versuchen, alles drumherum zu vergessen.
Ich mag daran, dass es eine Art der Repositionierung ist, in der man sich selbst zentriert und zum Ausgangspunkt machen kann. In dieser Vorstellung, für diesen Moment, ist man nicht marginalisiert! An anderer Stelle reflektierst du darüber, wie andere Leute dich wahrnehmen und schiebst in einem Nebensatz ein: „if they have the pleasure of being in my company“ – meinst du nicht, böse Zungen könnten behaupten, an dieser Stelle zeige sich Arroganz?
Jetzt wo wir das laut gelesen habe erinnere ich mich, dass ein ähnlicher Satz von Zora Neale Hurston gesprochen worden ist… Sie ist als Autorin der „Harlem Renaissance“ in schwarzen Communities aufgewachsen und hat quasi erst als erwachsene Person, als sie nach New York gezogen ist, Rassismuserfahrungen gemacht. Auf jeden Fall meinte sie mal, sie verstehe nicht, warum Menschen ihr gegenüber rassistisch sind, würden sie sich doch dadurch „the pleasure of her company“ wegnehmen; dieses Selbstbewusstsein schwingt da auch bei mir auf jeden Fall mit. Mit diesem Nebensatz wollte ich aber auch andeuten, dass wir als BIPoC ständig in Gefahr sind, durch die Perspektiven anderer verloren zu gehen – dadurch, wie andere uns wahrnehmen und beschreiben. Deshalb muss man selektiver darin werden, wer in unserer Gegenwart sein darf und unsere volle Präsenz bekommt. Ich habe viel Zeit in meinem Leben damit verbracht, verunsichert durch die Art zu werden, wie andere mich wahrnehmen; ich hantiere mein ganzes Leben damit, dass Menschen versuchen, mich zu verunsichern. An dieser Stelle wollte ich sagen, dass es Zeiten und Räume gibt, in denen ich das nicht machen muss. Und dort bin ich mein bestes Selbst.
Danke, dass du das mit uns teilst! Andere Beitragende haben auch über das Schaffen eigener Referenzen geschrieben, das scheint eine gemeinsame Einsicht zu sein…
Ja, das zieht sich durch ein paar Beiträge. Jedes Wort, das wir schreiben, und jedes Kunstwerk ist in gewisser Weise eine Art der Selbstdarstellung – und in einer Welt, die uns nicht darstellen will, hält jede Möglichkeit sich selbstdarzustellen das Potenzial bereit, ein radikaler Akt zu sein.
Weise Worte, Jessica. Davon brauchen wir also mehr?
Ja! Das Projekt hat mir gezeigt, wie schön es sein kann, wenn wir unter uns sind. In dieser politisch chaotischen und schrecklichen Welt liegt es an uns, Räume zu schaffen, in denen wir uns nicht nur wohlfühlen, sondern in denen wir auch aufgehen. Die Möglichkeit hat sich im Rahmen des Projekts geboten, weil ich mich quasi dazu bereit erklärt habe, ihn zu organisieren. Ich wünsche mir, dass es für mich und viele andere Menschen immer wieder diese Möglichkeiten geben wird.
Interview & Foto: Yasmin Künze