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Interview mit Peter Rehberg

1. Juni 2020

Interview über die Ausstellung „100 Objekte: An Archive of Feelings“

Mit der Wiedereröffnung des Schwulen Museums am 13. Mai hat auch die Ausstellung 100 Objekte: An Archive of Feelings eröffnet. Sie präsentiert 100 ausgewählte Objekte aus der Sammlung des Archivs vom SMU, die in den fünf Gefühlen Freude, Fürsorge, Begehren, Wut und Angst angeordnet sind. Peter Rehberg, Archivleiter und Kurator der Ausstellung, erzählt über den Entstehungsprozess der Ausstellung und einige ausgewählte Exponate.

 

SMU: Peter, du hast gemeinsam mit Ben Miller die soeben eröffnete Ausstellung „100 Objekte“ kuratiert. Was gibt es in der Ausstellung zu sehen?

Peter Rehberg: Es sind 100 Objekte aus unserem Archiv, eine etwas willkürliche Zahl. Das Konzept haben wir abgekupfert, zum Beispiel vom British Museum, das seine Sammlung so präsentiert hat. Die Idee dahinter ist, dass wir unsere Sammlung noch mal neu zusammenstellen. Oder noch mal einen neuen Zugriff darauf schaffen und die eigenen Bestände wiederbeleben. Wir wählen 100 Objekte aus und präsentieren sie. Die Sammlungen des Schwulen Museums sind sehr heterogen: Es gibt einen Fundus mit 3D-Objekten, im Archiv gibt es Dokumente und sogenannte Flachware, also Papiere. Wir haben eine Fotosammlung, eine Kunstsammlung und eine Kostümsammlung. Und das sind bloß unsere wichtigsten Sammlungen. Mit Objekten meinen wir nun Gegenstände und Materialien aus all diesen Sammlungen. Zu sehen sind sowohl ein Tuntenball-Kleid aus dem Westberlin der 1980er und 1990er, ein lesbischer Strickpullover, eine Harvey-Milk-Gedenkbriefmarke als auch ein Fotostativ aus dem Nachlass von Eberhard Brucks, einem unserer größten Nachlässe. Wir zeigen viele 3D-Objekte, aber auch Schätze aus unserer Kunst- und Fotosammlung in der Ausstellung. So auch das Gemälde Bartfrau von Tabea Blumenschein, die leider im Februar gestorben ist. Sie war Teil der Punkgruppe „Die tödliche Doris“. Ebenso sind auch Kunstwerke von Rüdiger Trautsch, Wilfried Laule, Petra Gall und Jürgen Baldiga zu sehen.

Tuntenball-Kleid

 

Wie habt ihr die Auswahl aus ca. 1,5 Millionen Archivalien getroffen?

Wir haben die Ausstellung mit dem Hausbudget gestaltet, was für eine Ausstellung dieser Größe ein ganz schöner Kraftakt war. Dementsprechend gab es auch kein Forschungsteam, das sich eineinhalb Jahre mit der Sammlung beschäftigt hat und die historisch bedeutsamsten Objekte ausgewählt hat. Wir haben also keine objektivierbare Perspektive eingenommen. Stattdessen sind wir viel intuitiver vorgegangen. Ben und ich haben einige Leute eingeladen: Ehrenamtliche, Personen aus dem Kollegium und Projektbeteiligte. Wir haben sie gefragt, was sie in der Ausstellung sehen wollen. Das sind dann teilweise Liebhabereien oder Objekte, die einem ans Herz gewachsen sind. Oder Objekte, die man nicht vergessen konnte. Oder einfach auch Sachen, die mir in meinen zwei Jahren im Haus unter die Finger gekommen sind. In diesen letzten zwei Jahren ist auch ein großer Bestandteil unserer Sammlung erst ins Haus gekommen.

Harvey-Milk-Gedenkbriefmarke

 

Sind diese Liebhabereien auch der Grund für den Titel „100 Objekte: An Archive of Feelings“?

Genau! Den haben wir auch geklaut. „An Archive of Feelings“ ist auch der Buchtitel von Ann Cvetkovich. Sie ist eine wichtige Vertreterin der Queer Theory in den USA. In ihrer Laufbahn setzt sie sich seit den 1990ern mit der queeren Qualität von Gefühlen auseinander. Sie sagt, dass es gerade für queere Subkulturen inoffizielle Geschichten, Erlebnisse, Erinnerungen, Ideen und Gedanken gibt, die oft nicht Teil der offiziellen Geschichtsschreibung werden. Sondern versteckt bleiben oder bestenfalls in Archiven wie bei uns verwahrt sind. An diesen Gegenständen hängen oft ganz persönliche Erinnerungen. So ist es auch in unserem Archiv. Die Gegenstände repräsentieren nicht nur etwas oder sind Beispiele für eine Bewegung oder politische Gruppe. Sie sind auch immer mit einem emotionalen Wert verknüpft. Diese emotionale Qualität des Archivs und des Gesammelten war uns wichtig. Und diese emotionale Qualität spielt für queere Archive eine besondere Rolle, weil sie bis vor 30 oder 40 Jahre gar nicht oder nur in Form von Privatsammlungen existiert haben.

Lesbischer Strickpulli von Ulrike Lachmann, Crisco-Schild von Stephen R., Selbstporträt von Jürgen Baldiga und Walpurgis in Berlin von Petra Gall

 

Kannst du da ein Beispiel nennen?

Das ist gar nicht so einfach zu beantworten. Weil sich die Frage stellt, um welche Gefühle es geht. Um die Gefühle der Leute, die mit dem Objekt verbunden waren? Gibt es ein Gefühl, das im Objekt aufbewahrt wird? Oder geht es um die Gefühle der Rezipient*innen, die das Objekt wahrnehmen? Das Selbstporträt von Jürgen Baldiga haben wir dem Gefühl Angst zugeordnet. Baldiga ist ein wichtiger Fotograf unserer Sammlung. 1993 ist er an Aids gestorben. Er hat die Versehrtheit seines eigenen Körpers von der HIV-Infektion bis zum Tod dokumentiert. Auf einem Bild ist sein Gesicht bereits von der Krankheit gezeichnet und er hat eine rote Clownsnase auf – mit einem Gummiband um den Kopf geschnallt. Auf diesem Bild hat er gleichzeitig den verzweifelten Blick und das spielerische, fast schon kindliche Kostüm. Man sieht das Foto als großen Farbabzug beinahe als erstes, wenn man in den ersten Ausstellungsraum geht. Da würde ich sagen: Bevor es um die Frage geht, welche Zeit repräsentiert wird und was Aids damals in der Gesellschaft bedeutete – alles höchst wichtige Fragen, die man ausgehend vom Bild stellen kann –, geht es erst einmal um die Wucht, die man wahrnimmt, wenn man vor das Bild tritt. Wenn ich in Kunstausstellungen bin, mache ich immer zwei Durchgänge durch Sammlungen. Den ersten mache ich immer intuitiv. Vor welchem Objekt oder Bild bleibe ich stehen, weil es etwas in mir auslöst? Im zweiten Durchgang interessiert es mich dann, Informationen zu erhalten und mehr darüber zu lesen. Unser Zugang war erst mal die unmittelbare Wirkungsweise von Objekten und Bildern aufzufangen.

Walpurgis in Berlin von Petra Gall

 

Gab es Objekte, wo die Wirkung auf das Team ganz unterschiedlich war oder es gar zu Streitereien kam?

Auf jeden Fall. Im ersten Raum haben wir das großformatige Schwarz-weiß-Foto Walpurgis in Berlin von Petra Gall. Es ist ein ikonisches Bild der Frauen- und Lesbenbewegung, Darauf ist eine Gruppe von Frauen zu sehen, die sich an den Armen einhaken und kollektiv auf der Straße marschieren und demonstrieren. Wir haben das dem Gefühl Wut zugeordnet. Ganz viele Besucher*innen sagen: „Wieso denn Wut? Das ist doch Freude!“ Das kann man bei einigen Objekten sagen. In der Tat hatten wir anfangs die Idee, den Objekten mehrere Gefühle zuzuordnen. Das ließ sich aber im Ausstellungsaufbau nicht realisieren. Es ist ja eine starke Behauptung zu sagen, dieses Kunstwerk bedeutet Angst, jenes Objekt bedeutet Freude. Damit machen wir Zuschreibungen, was besonders bei negativen Gefühlen problematisch sein kann. Wir hatten anfangs die Idee, einen Pfad zu legen, der Scham heißt. Aber jemandem Scham zuzuschreiben oder ein Objekt als schamvoll zu bezeichnen, ist keine unproblematische Zuschreibung. Mit den negativen Gefühlen ist es sowieso schwieriger als mit den positiven. In jedem Fall ist es bloß ein Angebot, sich das Objekt aus dieser Perspektive anzugucken. Gefühle sind so flexibel und beweglich, dass immer die Möglichkeit besteht, es anders wahrzunehmen.

Private Fotosammlung von Tante E. und Tante Ruth

 

Es gibt auch ein persönliches Exponat von dir in der Ausstellung. Was war der Grund, es aufzunehmen?

Sie werden sich im Grab umdrehen! Eine meiner Tanten hat ihren Neffen und Nichten Fotos vermacht. Das führte dazu, dass sich meine Geschwister und Cousinen und Cousins getroffen haben, um sich diesen Nachlass anzugucken und uns über die verstorbenen Verwandten zu unterhalten. Anschließend habe ich viel über Homosexualität oder nicht-heterosexuelle Sexualitäten in unserer Familie nachgedacht. Nicht nur wegen meines eigenen Schwulseins, sondern auch, weil es immer queere Gestalten in der Familie gab, wenngleich das nicht zur Sprache kam. Ein Frauenpaar ist mir da besonders in Erinnerung geblieben. Tante E. und Tante Ruth, ihre Lebenspartnerin würde ich mal sagen, wurden ca. 1904 geboren. Sie waren unzertrennlich, immer zu zweit unterwegs. Ich mochte sie ganz gerne, sie waren streng und intellektuell. Sie hatten soziale Berufe bei der Kirche. Es war verblüffend, mit welcher Selbstverständlichkeit, sie immer zu zweit kamen, und mit welcher Selbstverständlichkeit darüber kein Wort verloren wurde. Unsere heutige Generation ist sich jedoch einig, dass sie lesbisch waren. Selbst auf der Ebene der Familie wurden diese Frauen desexualisiert und ihr Lesbischsein unsichtbar gemacht.

Schallplatte von den Flying Lesbians

 

Du sprichst vom Unsichtbarmachen von Lesbischsein. Wie seid ihr in der Ausstellung generell mit Themen umgegangen, die in der Sammlung des Museums nicht so stark vertreten sind?

Bei einer Archivausstellung können wir nicht, wie das bei vielen anderen kuratierten Ausstellungen möglich ist, Künstler*innen einladen, die bisher noch nicht so stark im Haus vertreten sind. Das Schwule Museum war in den ersten 25 Jahren mit wenigen Ausnahmen hauptsächlich schwul. Das ist in den letzten 10-15 Jahren vielfältiger geworden. Damit müssen wir umgehen. Wir wollen unsere lesbischen und schwulen Schätze nicht verstecken. Wir wollen jedoch auch, dass die Sammlung ein Ort von queerer Vielfalt ist. Was lesbische Kunst angeht, haben wir in der Ausstellung Dildokunst, zeitgenössische Fotografien, Flugblätter, Zines, Zeichnungen von Kate Millett, Musik von Flying Lesbians – um nur ein paar zu nennen. Was Queers of Color angeht, haben wir Fotografien von Audre Lorde in der Sammlung, die auch in der Ausstellung zu sehen sind. Da gibt es immer noch eine Leerstelle. Das Archiv öffnet sich dafür und wir wollen unsere Sammlungstätigkeit aktiv in diese Richtung unterstützen.

Silber-Gelatine-Druck von Audre Lorde (Druck: Daniela Tourkazi) & Buch "Macht und Sinnlichkeit" von Audre Lorde und Adrienne Rich, herausgegeben von Dagmar Schulz

 

Gibt es die Möglichkeit, Objekte zu derartigen Leerstellen an das Archiv zu spenden?

Auf jeden Fall! Unser Archiv hat ja leider keinen Anschaffungsetat, sondern besteht – mit wenigen Ausnahmen aus Projektanschaffungen – ausschließlich aus Spenden. Wir haben großes Interesse, wenn Besucher*innen durch die Ausstellung Leerstellen entdecken oder ihnen etwas besonders gefällt und sie entsprechende Materialien spenden wollen.

Hast du schon Rückmeldungen von Besucher*innen zu der Ausstellung bekommen?

Viele Leute freuen sich, Sachen aus unserem Archiv zu sehen. Und sie sind überrascht, was für unterschiedliche und tolle Objekte das Schwule Museum überhaupt in den Sammlungen hat. Die Sammlungen spielen in den Ausstellungen oft eine untergeordnete Rolle. Das muss nicht unbedingt so sein. Wie wir hier zeigen, kann man sich ja zum Beispiel mit bestimmten Themen und Fragen an die eigene Sammlung wenden und schauen, was wir da finden. Ich würde sagen: Da findet man wahrscheinlich oft eine ganze Menge.