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Objekt des Monats: August

1. August 2017

Briefumschlag, adressiert an Karl Heinrich Ulrichs, 1893
Schwules Museum*, SL Karl Heinrich Ulrichs, Nr. 13

Am 28. August wäre Karl Heinrich Ulrichs (1825–1895), Vorkämpfer der heutigen LGBITQ*-Bewegungen, 192 Jahre alt geworden. Nur einen Tag später, am 29. August, jährt sich zum 150. Mal der Jahrestag seiner Bahn brechenden Rede auf dem deutschen Juristentag in München. Darin forderte Ulrichs erstmals öffentlich die Straffreiheit gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen, da diese auf einer natürlichen Veranlagung beruhten. Unter den Zuhörern kam es zu tumultartigen Szenen, die Rede musste abgebrochen werden. Zu seiner Motivation hat sich Ulrichs später selbst wie folgt geäußert:

Bis an meinen Tod werde ich es mir zum Ruhme anrechnen, dass ich am 29. August 1867 zu München in mir den Mut fand, Aug‘ in Auge entgegenzutreten einer tausendjährigen, vieltausendköpfigen, wutblickenden Hydra, welche mich und meine Naturgenossen wahrlich nur zu lange schon mit Gift und Geifer bespritzt hat, viele zum Selbstmord trieb, ihr Lebensglück allen vergiftete. Ja, ich bin stolz, dass ich die Kraft fand, der Hydra der öffentlichen Verachtung einen ersten Lanzenstoss in die Weichen zu versetzen. […]

Dann aber war mir’s, als ob eine andere Stimme ihr Flüstern begänne. Das war die Mahnung, mit der vor 30 Jahren mein Vorgänger im Kampfe, Heinrich Hössli in Glarus, sich selber gemahnt hatte, nicht zu schweigen (1), und welche in diesem Augenblick, anklingend und laut widertönend, mit all‘ ihrer Kraft mir vor die Seele trat: „Zwei Wege habe ich: dies Buch schreiben und der Verfolgung mich aussetzen, oder: es nicht zu schreiben, dann aber mit dieser Schuld beladen hinabzusteigen in das Grab. Ja, ja!“ […]

Ich aber wollte Hössli’s würdig sein. Auch ich wollte nicht unter die Hand des Totengräbers kommen, ohne zuvor freimütig Zeugnis abgelegt zu haben für das unterdrückte Recht angeborener Natur, ohne zuvor, wenn auch mit minderem Ruhm, als einst ein grösserer Name, der Freiheit einer Gasse gebrochen zu haben. Das waren die Gedanken, mit denen ich am 29. August 1867 zu München, im grossen Saal des Odeons, vor mehr als 500 deutschen Juristen, darunter deutsche Abgeordnete und ein bayrischer Prinz, mit hochklopfenden Busen die Rednerbühne hinan stieg. […]

Als ich die Rednerbühne verliess, herrschte im Saal eine unbeschreibliche Aufregung.

Zit. n.: Das Naturrätsel der mannmännlichen Liebe. Vor dem Forum des deutschen Juristentages.

Die Gründung des Zweiten Deutschen Kaiserreichs in 1871 brachte statt der erhofften Liberalisierung eine Verschärfung der Gesetzgebung. Enttäuscht exilierte Ulrichs nach Italien. Dort starb er 1895 in L’Aquila. Das Objekt des Monats zeigt einen Briefumschlag, datiert und gestempelt 1893, der an „Carlo Arrigo Ulrichs“ in L’Aquila adressiert ist. Der Absender ist anonym, Absendeort ist Malvern in Großbritannien. Ein nachträglicher Vermerk „ALAUDAE“ bezieht sich auf die von Ulrichs zwischen Mai 1889 und seinem Tod herausgegebene Zeitschrift Alaudae (Lerchen), die für den internationalen Gebrauch des Lateinischen und seine völkerverbindende Kraft warb. Der Inhalt bestand ausschließlich aus (lateinischen) Beiträgen des Herausgebers.

Text: Wolfgang Cortjaens, Mario Russo