Kohle-Skizze von Jürgen Wittdorf
Dank der großzügigen Spende von Boris Kollek ist unsere Kunstsammlung erneut angewachsen. Unser neuester Zugang ist eine Kohle-Skizze von Jürgen Wittdorf. 1932 geboren überlebte Wittdorf das NS-Regime und den Zweiten Weltkrieg, ehe er seine Ausbildung in den frühen 1950er Jahren an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig erhielt. Bekanntheit erlangte Wittdorf in der DDR durch seinen Zyklus von Holzschnitten Für die Jugend (1961). Sein Freund Frank Werner beschreibt Wittdorf als einen “Chronisten des DDR-Alltags“. Trotz des Unmuts gegenüber Wittdorfs verwestlichte Bilder aus alter DDR-Schule, besuchte die Generation der Freien Deutschen Jugend scharenweise seine Ausstellungen, um sich selbst differenziert und ungeschönt dargestellt zu sehen. Die Freie Deutsche Jugend zeichnete Wittdorf 1963 mit ihrem Kunstpreis aus und verteilte seine Drucke als Kunstbuch in einer Auflage von 10.000 Stück im der gesamten DDR.
In seinem nächsten Zyklus Jugend und Sport (1964), bestehend aus Zeichnungen, Holzschnitten und Fließenbildern für die Deutsche Hochschule für Hygiene und Körperbau, wandte sich Wittdorf sexualisierten Bildern des männlichen Körpers zu. Nur durch die Verherrlichung des sportlichen Programms der DDR konnten diese Bilder die Zensur überstehen. Seine intimen Bilder von nackten Athleten waren nach Ronny Matthes „selbst im Land der FKK revolutionär“. Das Museumsarchiv besitzt neben zahlreichen Ausgaben von Für die Jugend auch Originaldrucke und Skizzen des Zyklus Jugend und Sport sowie weitere Arbeiten aus seinem vielfältigen Werk.
Die neue Skizze eines jungen, bärtigen Mannes verdeutlicht Wittdorfs perfektionierten Zeichenstil. Seine Skizzen sind geprägt von Intimität und Freiheit in der Linienführung, die in den stärker idealisierten Holzschnitten und Drucken nicht so stark zum Vorschein kommen. Zurzeit lebt ein Interesse an diesen Themen und Darstellungsweisen in der queeren Theoriebildung und Kunstproduktion erneut auf. Der Kunsthistoriker David Getsy nennt sie „queere Möglichkeiten“ – Möglichkeiten, die „überall (auch versteckt) lauern können“ oder auch ein „Gefühl unbestimmter verkörperter Intimität schaffen“. Obwohl Wittdorfs Arbeiten in seinen letzten Lebensjahren zunehmend in Vergessenheit gerieten – er hörte in den 1990 Jahren mit der Kunstproduktion auf, verlor seine Bekanntheit nach der Wiedervereinigung durch das nachlassende Interesse am Osten und starb im Winter 2018, elf Jahr nach dem Tod seines Partners –, haftet seinem Werk eine erstaunliche Aktualität an.
Wir sind äußerst stolz, eine umfangreiche Sammlung von Wittdorfs Arbeiten zu verwahren und diese besondere Zeichnung neu im Archiv begrüßen zu dürfen. Als Objekt des Monats Dezember stellen wir Wittdorfs Kohle-Skizze im Café des Schwulen Museums aus.