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Queere Held*innen im Stadtbild – ein Gespräch mit Rafael Nasemann

1. Oktober 2025

Berlin hat die Homosexualität erfunden? Als der Paragraph 175 diskutiert wurde, schrieb der Literat Karl Maria Kertbeny 1869 an die Berliner Justizbehörde einen Brief, in welchem er dieses Gesetz ablehnte. In seinem Schreiben verwendete er den Begriff der Homosexualität, welcher von der Berliner Öffentlichkeit aufgenommen und etabliert wurde – und Sprache war geboren! Wer sich für solche geschichtlichen Leckerbissen begeistert, wird Rafael Nasemanns Projekte lieben: Mit seinen queeren Fahrradtouren „Homolulu Berlin“ und der Do-it-yourself-Audiotour „Queere Held*innen“ macht er queere Geschichte sichtbar – auf der Straße, per QR-Code und direkt im Alltag. Im Gespräch erzählt Rafael über seine Motivation, queere Geschichte lebendig zu halten, seine Arbeit für das Schwule Museum und die politische Dimension von Erinnerungskultur in Zeiten zunehmender Queerfeindlichkeit.

 

Yasmin: Rafael, wir kennen uns zwar schon, aber ich wünsche mir trotzdem drei Sätze zu dir von dir!

Rafael: Ich bin Rafael, komme ursprünglich aus einer kleinen Stadt in der Nähe von Marburg und bin seit 12 Jahren in Berlin. Davor habe ich fünf Jahre in China gelebt und bin eigentlich wegen eines Jobs nach Berlin gekommen. Als schwuler Mann will man aber auch einfach nach Berlin! (lacht) Ja, da will man irgendwie sein… Das hat sich auch bewahrheitet, bisher ist Berlin ganz toll. Ich genieße die queere Szene mit all ihren Vorteilen! Zurzeit befinde ich mich auch in einem längeren Sabbatical von meinem Beruf im Marketing, das heißt, ich habe genug Zeit für andere Dinge.

Auf deine Beziehung zu der Stadt kommen wir gleich nochmal zurück, aber zuerst musst du mir verraten, wie du am Schwulen Museum gelandet bist.

Zu Beginn meines Sabbaticals habe ich nach etwas gesucht, was mich sinnvoll beschäftigt. 2021 habe ich angefangen, queere Stadtführungen auf die Beine zu stellen, quasi so eine Art Pandemie-Hobby … Das Schwule Museum erschien mir neben diesem Projekt als perfekte Ergänzung. Ich habe mich kurzerhand hier gemeldet und bin seit 2023 Teil des ehrenamtlichen Teams im Museumbetrieb. Auch wenn ich eher unregelmäßig da bin, genieße ich immer den Kontakt mit dem queeren Publikum und den Kolleg*innen vor Ort.

Manche haben zu backen angefangen, du hast queere Stadtgeschichte für dich entdeckt! (lacht)

Ich habe das fantastische Buch „Das andere Berlin“ von Robert Beachy gelesen und gemerkt, wie wenig ich von der queeren Geschichte der Stadt weiß. Ich dachte mir, dass es anderen auch so geht, darum wollte ich was in die Richtung machen! Im Lockdown war ich also in der Recherche, und als die Lockerungen kamen, habe ich die ersten Touren mit Freund*innen gemacht – das war noch ganz schön ablesend und stotternd (lacht). Aber nach und nach wurde das besser, später auch mit eigener Webseite unter dem Namen „HomoluluBerlin“ und Instagram-Kanal. Wenn das Wetter es zulässt, biete ich mittlerweile zwei bis vier Fahrradtouren im Monat an.

Sehr bescheiden von dir, diese Infrastruktur als Hobby zu bezeichnen … Hat das für dich nicht auch aktivistische Dimensionen?

Auf jeden Fall! In den 1920er Jahren war Berlin einer der queerfreundlichsten Orte der Welt; das konnten selbst die Nazis der Stadt nicht austreiben. Die Queerness kam nach dem Nationalsozialismus zurück! In den 1980er und 90er Jahren war das ein Ort der Freiheit, ein sehr linker Ort. Heute ist es wieder ein Fleck der Erde, der queere Menschen aus aller Welt anzieht, weil sie hier so sein können, wie sie sind! So etwas wird auch unterbewusst von Generation zu Generation weitergegeben, nur dazu muss man von dieser Geschichte wissen. Auch wenn ich nur einen kleinen Teil hierzu beitragen kann, finde ich es wichtig, dass die Öffentlichkeit über diese queere Geschichte Bescheid weiß.

Aktuell beschäftigst du dich mit queeren Held*innen in Berlin und weitest damit dein Stadtführungsprogramm aus. Kannst du uns mehr dazu erzählen?

Ich bin sehr dankbar für die ganzen Interessierten an meinen Stadttouren auf dem Fahrrad; ich habe da immer eine gute Zeit. Mir ist aber auch schnell aufgefallen, wer diese besucht: nämlich Menschen, die bereits Ahnung von queerer Geschichte haben! Wenn ich aber jene erreichen will, die noch nicht so viele Berührungspunkte hatten, brauche ich einen anderen Ansatz. Wie erreiche ich also Leute, die gar nicht aktiv nach diesem Wissen dürsten?

Wie denn?

Ich habe angefangen, an Stopps, bei denen ich normalerweise bei meinen Führungen halten würde, um etwas zu erzählen, einen QR-Code anzubringen. So stoßen Leute auch einfach mal so drauf und können diese Informationen im Alltag erleben. So wurde die Do-It-Yourself Audio-Tour geboren, die ich einfach nur „Queere Held*innen“ genannt habe.

Du stellst Leuten dieses Wissen quasi in den Weg … Hat das für dich politische Dimensionen?

Ja! Ich glaube, dass die Erfahrung einer Stadt vererbt wird. Das geht nur, wenn man davon weiß! Ich will, dass Menschen um die Queerfreundlichkeit Berlins wissen, um sie weitergeben zu können. Das ist also in jedem Fall ein Projekt der Toleranz! Für Toleranz haben viele Menschen in der Vergangenheit gekämpft und sind zum Teil auch für sie gestorben. Das was mal war, das möchte ich anerkennen. Gerade in den aktuellen Zeiten des Konservatismus und der zunehmenden Queerfeindlichkeit.

Was bedeutet es dir dann, dass das Projekt Queere Held*innen zum Teil vom Berliner Senat mitgefördert wird?

Auf jeden Fall etwas! Ich muss ja Leute überzeugen, an ihr Haus Löcher zu bohren und ein Schild anbringen zu dürfen. Da hilft es total, wenn anerkannte Institutionen, darunter auch das Schwule Museum, die Hannchen-Mehrzweck-Stiftung und das Mitte Museum als Unterstützende auftauchen.

Kannst du mit uns einmal durchgehen, wie das abläuft: ich sehe eine kleine Tafel mit einem QR-Code, den ich scanne. Was dann?

Es öffnet sich dein Browser mit einer Webseite. Dort findest du Infos in Text und als Audio zum anhören über den entsprechenden Teil queerer Stadtgeschichte, vor dem du stehst. Außerdem siehst du andere Punkte in der Nähe auf einer Karte, die zu einem Besuch einladen und weitere wichtige Personen, Ereignisse oder Orte queerer Geschichte erzählen. Wer Lust hat, kann so eine eigene Tour machen! Das ist ein weiterer Grund, warum ich das mit den QR-Codes auch so cool finde: auch wenn ich mal keine Zeit oder Lust für die Führungen habe, bleibt mein erarbeitetes Wissen zugänglich und öffentlich!

Hast du einen Lieblingsstopp?

Das wäre der Ort, an dem sich das Institut für Sexualwissenschaft befand. An dem Platz ist einfach viel passiert: Christopher Isherwood hat dort gewohnt, Dora Richter hat da gearbeitet, und der Vorstand des Wissenschaftlich-humanitären Komitees hat sich da getroffen! Das ist also ein Ort, an dem geforscht und Menschen geholfen wurde, wo queere Menschen Zuflucht gefunden haben. Er befand sich dort, wo sich heute das Haus der Kulturen der Welt befindet, dort gibt es 200 Meter entfernt ein Denkmal für Magnus Hirschfeld. Letzte Woche konnte ich eine kleine Steinstele mit QR-Code daneben stellen. Das war ein großer Deal für mich, der erste QR-Code neben einem offiziellen Denkmal.

Wer gehört zu deinen liebsten Queeren Held*innen?

Mich berührt die tragische Liebesgeschichte von Eva Siewert, einer in der NS-Zeit denunzierten Schriftstellerin, und Alice Carlé, einer Jüdin, die 1943 in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert wurde. Besonders wie Siewert ihrer Freundin gedenkt, macht mich emotional. Auch wichtig finde ich den Pionier Karl Heinrich Ulrichs, der für mich zu den unterschätztesten Aktivist*innen gehört. Ulrichs war mit vielen Sachen einfach der Erste, aber nur wenige kennen ihn. Er hat sehr früh über die Homosexualität geforscht und dazu publiziert, er hat Schwulen und Lesben erstmals einen positiv besetzten Namen gegeben und hatte wohl das erste öffentliche Coming-Out. Mit seinem Tun hat er die Grundlage für viele schwul-lesbische Bewegungen gelegt, dafür bin ich dankbar. Und das alles, ohne Vorbilder zu haben! Dieses Jahr hat dieser Held auch seinen 200. Geburtstag gefeiert.

Woher kommt deine Begeisterung für Geschichte?

Was soll ich sagen, ZDFinfo mit seinen Dokus ist mein Lieblingssender (beide lachen). Ich bin wohl ein Geschichts-Nerd, dort habe ich meine Nische gefunden. Und die Aufbereitung dieser Inhalte, egal ob aus Büchern, Archiven oder digitalen Artikeln, das macht mir sehr viel Spaß. Ich finde es wichtig, Kommunikator in dieser Sache zu sein. Ab auf die Straße damit!

Coole Sache, danke dir Rafael! Wo können wir das Projekt finden, wenn wir nicht abwarten wollen, zufällig auf einen deiner QR-Codes zu stoßen?

Wer aus der Tür des Schwulen Museums geht, kann einfach den Code in der Tür scannen und mit der Walking Tour durch den Nollendorfkiez beginnen. Ansonsten habe ich eine Homepage unter homoluluberlin.de, dort findet man Termine der geführten Fahrradtourund auch die Seiten und Routen der Queeren Held*innen. Man kann die Beiträge übrigens auch anhören ohne zu den QR-Codes zu gehen. Sollte das Internet zu altmodisch sein, habe ich natürlich auch einen Instagram-Account (@homoluluberlin) und TikTok (@homoluluberlin)

 

Interview & Foto: Yasmin Künze