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Sachen in ihrer Zeit sehen. Klaus Sator über unsortierte Nachlässe, Männerforschung und die Suche nach verlorenen Zusammenhängen.

1. Juni 2025

Klaus Sator hat sich dafür eingesetzt, dass der Nachlass des Anarchisten und Künstlers John Olday ans Schwule Museum kommt. Und kaum hatte er mit der Erschließung angefangen, kam bereits eine zweiter, vergleichbar unübersichtlicher Nachlass dazu. In Zusammenarbeit mit Mitarbeitenden im Museums-Archiv versucht Klaus, die Dinge so zu ordnen, dass andere sie später wiederfinden können – und dabei kann es sein, dass er auf Musikinstrumente, Flugbuchungen und Kochrezepte stößt. Im Gespräch erzählt er, wie er praktisch vorgeht.

Lieber Klaus, man sieht dich in den letzten Wochen immer irgendwo im Haus mit großem Rollwagen und vielen Kisten darauf. Was machst du da gerade im Schwulen Museum?

Ich erschließe den Nachlass von Volker Elis Pilgrim, der neu in den Bestand des Schwulen Museums gekommen ist. Pilgrim war ein bedeutender Vertreter der deutschen Männerbewegung der 1970er und 80er, und hat zu dieser Zeit Bücher geschrieben mit Auflagenzahlen, von denen man heute nur träumen kann.

Und er war auch eine öffentliche Figur, war in Talkshows….

…im Fernsehen, genau.

Und heute kennt man ihn kaum noch, oder?

Die Jüngeren nicht. Aber alle, die sich ein bisschen mit der Geschichte von Männerbewegung und Geschlechterforschung in ihren Anfängen beschäftigen, kommen an ihm eigentlich nicht vorbei. Als die Anfrage kam, habe ich mal bei mir zu Hause nachgeschaut: Ich hatte sechs Bände von ihm aus der Rowohlt-Reihe „Mann“, sowas gab es damals.

Was war damals die Idee hinter der Männerbewegung? Männer hatten ja auch damals Räume genug, um sich auszubreiten.

Es ging darum, sich selbst und seine Herkunft infrage zu stellen. Einige Männer haben sehr engagiert versucht herauszufinden, warum sie so viele Vorteile haben. Aus eurozentristischer Sicht, muss man allerdings sagen, aber es wurde gegen die klassischen Erwartungshaltungen gekämpft, auch wenn man sich nicht als schwul gefühlt hat. Da gab es Selbsterfahrungsgruppen, Körpererkundungen, Seminare… und da spielte Pilgrim eine große Rolle.

Spannend. Und das ist ja nur einer von zwei Nachlässen, die du gerade fürs Schwule Museum erschließt.

Ja, der zweite ist ein Nachlass von John Olday, ein Deutschbrite, der als uneheliches Kind zur Welt kam und im Laufe des Lebens seine Homosexualität entdeckt hat. Der war Anarchist, also jemand, der die Freiheit in allem gesucht und staatliche Zwänge prinzipiell abgelehnt hat. Seine anarchistischen Kollegen wussten relativ früh, dass er schwul ist. Was ich total spannend bei ihm finde, ist, dass sich in seinem Nachlass eine Liste befindet, wo er gegen Ende seines Lebens versucht, relativ genau aufzulisten, welche Personen in seinem Leben ihm wichtig waren, und das nach Kategorien wie „Sexualität“ und „Freundschaft“ – und da kommt dann doch eine ganze Latte von Männern zusammen, neben zwei, drei Frauen, die es auch gab in der „Sexualitäts“-Kategorie.

Also zwei ziemlich wilde, kosmopolitische Biografien, aus verschiedenen Generationen! Wie kommt es denn, dass Nachlässe von solch spannenden Menschen hier ans Schwule Museum kommen?

Also Pilgrim ist hierhergekommen, weil sein ehemaliger zeitweiliger Lebensgefährte und dessen Frau, von seinem Tod mitbekommen haben. Sie haben sich direkt ans Schwule Museum gewendet, ob da ein Interesse besteht, und dann die Kosten übernommen, dass diese ganzen Sachen nach Deutschland kommen. Und sie sponsern ja auch quasi ein bisschen die Aufarbeitung, sprich das, was ich mache. Bei Olday habe ich selbst dafür gesorgt, dass der Nachlass hierherkommt, weil ich über eine Ausstellung, die wir damals im Centrum Schwule Geschichte in Köln gemacht haben zum Thema „Homosexualität in der Karikatur“, auf ihn gestoßen bin und dann festgestellt habe, dass er eigentlich der erste Schwule war, der schwules Leben ironisiert hat. Das war lange vor Ralf König und kam damals bei Schwulen nicht so gut an. Diese Karikaturen sind aber viel veröffentlicht worden. Er hat zum Beispiel auch den schwulen Spartakus-Reiseführer von 1975 mit über 200 kleinen Karikaturen illustriert.

 Also er hat Selbstironisches in den schwulen Medien publiziert?

Genau. In Deutschland war es die „him“, da hatte er eine gewisse Zeit lang eine Seite gestaltet. Ich hatte einen Aufsatz über Olday geschrieben und dann ist der „Schwager“, also der Bruder seines Lebensgefährten, der in London gestorben war, auf mich zugekommen. Er erzählte mir, dass er noch diese ganzen Sachen, die Olday und sein Freund, als sie von Australien zurückgekommen waren, bei ihm zu Hause auf Dachboden deponiert hatten. Das waren acht oder neun Überseekisten mit ganz viel Material. Und dann habe ich gesagt, als Schwuler fände es nicht schlecht, wenn wir das hier nach Berlin ins Museum kriegen könnten. Bei den Schwulen ist er eigentlich kaum noch präsent. Obwohl er relativ früh auch schon Lieder mit schwulen Themen gesungen hat. Aber „schwul“ und „Anarchist“ passen ja für den Mainstream nicht so gut zusammen.

Obwohl du seinen Anarchismus ja gerade als so eine Art Proto-Queerness beschrieben hast.

Ja, aber das heißt ja nicht, dass die Mainstream-Gesellschaft das gut findet. Für Anarchisten ist das nicht so ein Problem.

Bevor wir auf die praktische Arbeit kommen, wie man solche umfangreichen und vielgestaltigen Nachlässe erschließt, vielleicht nochmal kurz zu dir. Du hast gerade schon das Centrum Schwule Geschichte in Köln erwähnt. Die Zeitschrift, in der du über Olday geschrieben hast, war die „Invertito“…

Ja, das Jahrbuch des Fachverbandes Homosexualität und Geschichte. Das erscheint einmal im Jahr bei Männerschwarm, die 26. Ausgabe ist jetzt in Vorbereitung. Ich komme eigentlich aus Südhessen, aus Darmstadt und bin aus beruflichen Gründen Ende des letzten Jahrhunderts nach Köln gegangen.

Du bist Historiker, oder?

Eigentlich bin ich von der Ausbildung Lehrer für Sozialkunde, Geschichte und Gemeinschaftskunde, aber zu einer Zeit, wo es eine Lehrerschwemme gab. Dann habe ich zur Zeitgeschichte promoviert, aber überhaupt keine Stelle bekommen. Also habe ich eine Weiterbildung zum wissenschaftlichen Dokumentar gemacht, hier in Potsdam mit Praktikum beim SWF, und nebenher mich im Centrum Schwule Geschichte und im SC Janus engagiert, dem ersten schwul-lesbischen Sportverein…

Wie kamst du zum Sport?

Um soziale Kontakte zu knüpfen. Und das hat sich auch teilweise verbunden, weil ich auch die wahrscheinlich weltweit erste Ausstellung zu Lesben und Schwulen im Sport initiiert und kuratiert habe, die 2000 im Deutsches Sport & Olympia Museum in Köln ausgestellt wurde, inzwischen eine Wanderausstellung ist und zuletzt 2023 in Spanien zu sehen war. Die wurde in sechs Sprachen übersetzt.

Ein internationaler Erfolg!

Wenn man so will, aber im kleinen Rahmen, nicht so gut ausgestattet wie das Schwule Museum, das natürlich auch nicht gut ausgestattet ist, aber im Verhältnis schon.

Und wann hast du das kennengelernt?

Als ich nach Berlin kam, habe ich am früheren Standort Mehringdamm einige Ausstellungen gesehen. Und ich kannte über meinen Fachverband auch Leute, die im Schwulen Museum mal gearbeitet haben, Karl-Heinz Steinle, und Jens Dobler, der kürzlich verstorben ist. Und dann kam natürlich die erfolgreiche „Homosexualität_en“-Ausstellung, in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Historischen Museum.

Wie hast du das Schwule Museum so wahrgenommen seit der Mehringdamm-Zeit?

Dass es sich immer mehr professionalisiert hat. Die Ausstellungen sind relativ gut besucht und sehr professionell gemacht. Am Mehringdamm war eher das, wie soll ich sagen, das Nicht-Ganz-So-Professionelle, aber sehr, sehr Engagierte spürbar.

Jedenfalls hattest du die Idee, den Olday-Nachlass hierherzubringen. Und wie sind die Pilgrim-Nachlassverwalter auf dich gekommen?

Das war eigentlich auch wieder mehr oder weniger Zufall. Als ich hier mal unten im Café war, haben mich die beiden mit dem Pilgrim-Nachlass engagierten Personen, Ulfa von der Steinen und Alexej Mend, über Rüdiger Lautmann angesprochen, der hat uns vorgestellt. Sie haben mich gefragt, ob ich Interesse hätte, das zu machen. Und dann habe ich gesagt, prinzipiell finde ich Pilgrim eine sehr spannende Person, aber ich wollte nicht noch einen zweiten Nachlass ehrenamtlich erschließen…

Wie groß war der denn? Wie quantifiziert man sowas überhaupt?

In laufenden Metern! Oder der Anzahl von Kartons. Bei Pilgrim war eine große Menge Bücher drin, der hatte eine ziemlich große Bibliothek, darunter auch viele seiner eigenen Veröffentlichungen, er hat ja viel geschrieben, nicht nur zu queeren Themen. Teilweise auch das gleiche Buch in etwas veränderten Ausgaben, weil er oft nach Rückmeldungen nochmal was überarbeitet hat…

Was ja auch spannend ist.

Ja! Ich habe die so klassifiziert nach vier Gruppen: Bücher, die gar nichts mit der Thematik zu tun haben. Und Bücher, die eine queere Thematik haben, die für das Haus hier interessant sein könnten, wenn sie nicht schon da sind. Dann seine eigenen Werke, und als Viertes diejenigen, die er geschenkt bekommen hat mit Widmung. Dazu die Arbeitsmaterialien. Es gibt halt auch Bücher, wo er dann Randnotizen gemacht hat, zum Beispiel ein paar Bände der Marx-Engels-Werke, weil er sich mit der patriarchalischen Beziehung von Karl Marx und den Frauen in seiner Familie auseinandergesetzt hat… Insgesamt sind das 123 Kisten, natürlich nicht alle voll, weil man bei Büchern ja mit Rückschmerzen aufpassen muss.

Das kennen wir alle von Umzügen. Okay, also es sind Bücher drin, und was noch?

Sehr viel privates Material, also Fotos aus unterschiedlichen Zusammenhängen, sehr, sehr viel Korrespondenz. Das Material kam nicht sehr sortiert an. Ich kann manches bislang überhaupt nicht zuordnen. Und dann ist es auch in verschiedene Kisten verteilt. Was mich aber besonders fasziniert, ist, dass Pilgrim wahnsinnig viel Tagebuch geführt hat, also fast zu jedem Tag.

Von wann bis wann?

Kann ich noch nicht genau sagen. Er hat eigentlich als Schüler schon angefangen. Früher wurde ja mehr Tagebuch geschrieben, aber wie er schreibt, ist echt Wahnsinn. Was er da alles erlebt hat, mit wem er Kontakt hatte, mit wem er sich getroffen hat. Rosa von Praunheim kommt z.B. vor, mit dem hatte er auch zusammengearbeitet. Und da gibt es aber manchmal Tagebuchaufzeichnungen, die nur ein Thema betreffen. Also habe ich gerade vorhin eins in der Hand, wo es um zwei Jahre ging, wo in Deutschland diese RAF-Geschichte war und er sich mit der Entwicklung auseinandersetzt. Und sonst gar nichts. Aber das auch tagebuchmäßig, also mit Datum!

Und sind da auch so ganz banale Alltagsbeobachtungen drin, was er gefrühstückt hat…?

Bestimmt, aber ich habe jetzt nicht so tief reingeguckt. 123 Kartons zu erschließen, ist viel Arbeit. Ich versuche, nur zu nach groben Kriterien zu klassifizieren, nicht alles zu lesen. Dazu müsste man sich auch erstmal in seine Schrift einlesen.

Du hast das schon angedeutet, aber wie kam das Material denn hier an?

Es wurde erstmal umverpackt. Material kann durchs Lagern feucht geworden sein, dann können im Papier Mikroben, Bakterien, alles Mögliche entstehen. Das macht aus Konservierungsgründen Sorgen, man will ja nicht, dass ein betroffener Bestand auf andere Sachen übergreift. Die 123 Kisten waren jedenfalls das Ergebnis der Umverpackung durch zwei andere Archivmitarbeitende.

Und wie gehst du praktisch vor? Also wenn ich mir vorstelle, du findest was in Kiste 4 und stellst dann bei Kiste 76 fest, das ist der gleiche Zusammenhang. Wie hält man all diese Bälle in der Luft, dass man am Ende die richtigen Zuordnungen findet?

Das ist das ganz große Problem momentan, ein Platzproblem! Es gibt ein grobes Bestandsverzeichnis, das so ganz knapp anreißt, was in diesen Kisten drin ist. Also gehe ich die Liste durch und vermute plötzlich, dass in dieser Kiste auch was Interessantes sein kann. Aber finde ich die gleich? Und wenn man dann hineinschaut, dann hat das handgeschriebene Material auch manchmal Brüche. Man merkt, das hört irgendwo auf. Die Fortsetzung ist vielleicht verlorengegangen, vielleicht in einer anderen Kiste…

Eine wirklich anspruchsvolle Aufgabe! Wohin führt das, idealerweise?

Die Idee ist, das alles so zu sortieren und gruppieren im Sinne eines Findbuchs, optimal noch in einer Datenbank, die mit bestimmten Begriffen dann das Material verschlagwortet, sodass es für Nutzer brauchbar ist. Bei Pilgrim gibt es relativ wenige Objekte, die man für eine Ausstellung benutzen könnte. Von Olday gibt es z.B. Instrumente, auf denen er gespielt hat, eine Gitarre und ein Akkordeon, und auch die Überseekisten machen natürlich was her…

Bei Pilgrim also nur trockenes Schriftgut?

Also es gibt so ein paar kleine Objekte. Das eine sieht aus wie ein Stein, aber im Verzeichnis steht „Skulptur“, da muss ich überlegen, was ist das Skulpturale jetzt an diesem Ding? Wahrscheinlich kommt das aus seiner letzten Lebensphase, wo er sich mit den ethnischen Minderheiten in Auckland (Neuseeland) beschäftigt hat. Die inhaltliche Erschließung steht aber auch nicht an erster Stelle, es geht mir erstmal um die formalen Kriterien: Wie kann man was zuordnen, kann man was „entsorgen“? Schwierige Frage: Was wirft man weg? Da gibt es z.B. Flugbuchungen. Ist das wichtig? Andererseits kann man so ein bisschen nachvollziehen, wo er sich bewegt hat. Oder was ist, wenn man ein Kochrezept findet?

Für welches Gericht?

Weiß ich nicht mehr. Es gab einige, er hat ja auch ein Buch über Vegetarismus geschrieben, das war sogar ziemlich erfolgreich…

Verstehe! Aber wäre das dann nicht etwas für ein anderes Archiv?

Prinzipiell versucht man eigentlich immer, zumindest nach meiner Kenntnis, den Bestand zusammenzuhalten. Und dann muss ein Archiv überlegen: will ich das oder nicht? Natürlich könntest du bei Olday sagen, alles über Anarchismus ziehe ich da raus. Aber wo tue ich dann die Sachen hin, wo sich das ein bisschen mischt?

Rainer Werner Fassbinder hat ja z.B. auf Rückseiten von Szene-Flyern Notizen für seine kommenden Filmen gemacht…

Das ist bei Pilgrim auch so, es gibt Vorder- und Rückseiten mit völlig unterschiedlichem Material!

Was hast du denn persönlich bei der Erschließung für Entdeckungen gemacht?

Naja, es kommen so bestimmte Dinge aus der eigenen Biografie wieder hoch. Wenn er bestimmte Bücher erwähnt, und ich da denke, das steht auch in meinen Büchern, habe ich auch mal gelesen. Was mich fasziniert, ist natürlich das Netzwerk, das er hatte. Allerdings bekommt man auch mit, dass es doch auch viele Brüche in diesen Kontakten gab. Ich frage mich auch öfters, warum ist der eigentlich so abgedriftet in den letzten Lebensjahren? Es gibt schon so interessante Phänomene, dass viele Schwule, wenn sie älter werden, auf eine esoterische Schiene geraten…

Willst du über Pilgrim irgendwann mal inhaltlich arbeiten?

Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Aber über Olday schreibe ich eine Biografie. Die kommt im September in der Reihe Rosa Winkel raus!

Wow. Eine letzte Frage: Was denkst du, was muss man mitbringen, um so eine Arbeit machen zu können?

Also es gibt natürlich klassische Ausbildungen dafür, aber es gibt auch Engagement und Interesse! Ich bin der Auffassung, das können auch Leute, die kein Archivar*innen sind, die nicht Geschichte studiert haben, wenn sie ein Interesse haben. Man sollte aber schon so ein gewisses Problembewusstsein haben, und vor allem: Man sollte immer Sachen in ihrer Zeit sehen! Weil das, was wir heute für richtig halten, ist in 50 Jahren garantiert nicht mehr Stand der Dinge. Also man muss immer verschiedene Perspektiven berücksichtigen, nicht nur den Jetzt-Standpunkt, man weiß ja nie, was für wen mal interessant sein könnte.

Vielen Dank Klaus, für deine Arbeit und dieses interessante Gespräch!

 

Interview: Jan Künemund. Foto: Yasmin Künze