Tarek Shukrallah macht aktivistische Forschung und publizierte letzten Monat als Herausgeber*in den Sammelband „Nicht die Ersten – Bewegungsgeschichten von Queers of Color in Deutschland“. Die vorausgehende Recherche war unter anderem auch an das Archiv des Schwulen Museums gebunden. Als Schätzchen des Monats Oktober hilft uns Tarek zu verstehen, was eine*n eigentlich dazu bringt, solch ein Projekt zu starten und einen langen Atem dabei zu behalten. Dabei legt Tarek nicht nur eine intime Zeitzeug*innenschaft nicht-weißer Communities ab, sondern liefert auch eine gnadenlose Bestandsaufnahme ihrer Geschichten in unserem hauseigenen Archiv…
mino: Salam Tarek! Ich bin tatsächlich etwas aufgeregt, mich heute mit dir zu unterhalten. Du bist ja aktuell ein kleines Sternchen der Berliner Literaturlandschaft…
Tarek: (lacht) Ist das so?
Ich würde sagen ja! Die Resonanz in den Medien, vor Ort bei deinem Book-Release und online lügen nicht. Wie ist das gerade für dich?
Ja, es ist auf jeden Fall einiges los. Ich freue mich über das große Interesse an dem Sammelband „Nicht die Ersten“, sowie an dem Projekt als Ganzes. Es scheint viele Personen zu geben, die mehr über Bewegungsgeschichten von Queers of Color in Deutschland erfahren wollen, und über die Fragestellungen, die das Thema aufwirft.
Welche Rolle spielt Tarek Shukrallah in diesem Projekt?
Die Pressearbeit war jetzt natürlich sehr auf mich als Herausgeber*in des Sammelbands fokussiert, aber im Allgemeinen würde ich sagen ist es wirklich ein Gemeinschaftsprojekt. Das ganze Buch ist eigentlich der Versuch, Geschichten, Erzählungen und Menschen zusammenzubringen.
Zu Community-Aspekten will ich auf jeden Fall mehr erfahren, jetzt aber muss ich dich fragen: wie bist du hier gelandet? Woher kommst du, was hast du da gemacht und was beschäftigt dich?
Na gut. Ich bin seit fast vier Jahren zwischen Büro und Keller dieses Hauses beschäftigt, nämlich im Archiv und mit dem Archiv. Da interessiere ich mich vor allem für Queer-of-Color-Bewegungen in Deutschland und die Bestände des Schwulen Museums, die hierzu Aufschluss geben. In meinem anderen Leben bin ich wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in der Politikwissenschaft an der Uni Gießen, und in verschiedenen Zusammenhängen aktivistisch unterwegs.
Kommst du aus Gießen?
Ich komme aus der Nähe von Mönchengladbach und auch aus Kairo. In Marburg habe ich auch viel Zeit verbracht, weil ich da studiert habe. Ich habe ziemlich lange studiert, weil ich viel politischen Aktivismus in der Zeit gemacht habe, und mich mit einer Stelle als Community-Organizer*in bei der Marburger Aidshilfe über Wasser halten musste. So habe ich zum Beispiel ein queeres Zentrum in der Stadt mitaufgebaut. Zu der Zeit habe ich auch ein kleines Archiv von dem Aids-Aktivisten Bernd Aretz geerbt, da kommt auch mein Zugang zu Archiven her. Bernd war lange im Nationalen Aids-Beirat, und während der Gründungszeit in der Deutschen Aidshilfe eine wichtige Figur. Als er verstoben ist, habe ich seine umfangreiche private Bibliothek und archivarische Sammlung geerbt. Die sind dann Teil des Queeren Zentrums geworden. Danach bin ich nach Berlin gegangen, mit dem Gedanken „mal eben“ einen „coolen internationalen Master“ zu studieren; das war 2020. Dann ging Corona los und ich musste den Master aus meinem Wohnzimmer heraus studieren. So kam es, dass ich mich nicht mit Fragen zu queeren Bewegungen weltweit, sondern mit Queer-of-Color-Bewegungen in Deutschland beschäftigt habe. Ich finde, man muss Forschung machen, mit der man in einem direkten Kontakt, im Dialog und in einem solidarisch-politischen Verhältnis steht… Also war das Thema naheliegend, weil es aktivistisch ist, mit mir zu tun hatte und hat. Daraus ist unter anderem dieses Buch geworden.
Jetzt bist du ja immer noch hier. Hat dich mehr als der Master in Berlin gehalten?
Auf jeden Fall, ich bin sehr schnell in den Aktivismus und die Projektarbeit hier gekommen: 2021 wurde ich Teil von QTI*BIPoC United, das interventionistisch in die Pride-Saison eingegriffen hat. Zu dieser Demonstration sind, sehr zu unserer positiven Überraschung, knapp 3000 Menschen aufgekreuzt. Das war schon echt ein wichtiger Moment für mich. So richtig habe ich aber eigentlich erst letztes Jahr entschieden, dass ich wirklich in Berlin bleiben möchte, zumindest mit einem Fuß. Mit meinem Forschungsaufenthalt habe ich zwar auch in Tunis ein Zuhause gefunden, zu dem ich immer wieder zurückkehre, trotzdem soll Berlin eine Base bleiben. Orte wie das Tuntenhaus, das Schwule Museum, der Südblock, die Möbel Olfe, der Sonntags-Club, die Oya-Bar, Organisationen wie GLADT* und LesMigraS… Die gibt es wirklich nur einmal auf der Welt, und zwar hier in Berlin. Da lohnt es sich, da zu sein, da zu leben und diese Orte zu verteidigen.
Es ist uns eine Ehre, gemeinsam mit diesen Größen auf einer Liste zu landen! Kannst du dich an deinen ersten Tag im SMU erinnern?
Das war 2015, da habe ich die Ausstellung „Homosexualität_en“ besucht. Danach hatte ich ein paar Mal mit dem SMU zu tun. Der nächste Berührungspunkt hatte mit Klassenfragen in der westdeutschen Schwulen-Bewegung zu tun; das ist ein Thema, zu dem ich auch viel arbeite und schreibe. Da habe ich mich damit auseinandergesetzt, wie Klasse und Intersektionalität zusammenhängen: wie werden wir in dieser Welt nicht nur diskriminiert, sondern auch konkret ausgebeutet? Ich habe hierzu für die Zeitung „Analyse & Kritik“, ehemals „Arbeiterkampf“, geschrieben. Dafür bin ich viel in Archive der Rosa-Luxemburg-Stiftung gegangen, aber eben auch in das Archiv hier. Und dann habe ich während Corona mit meiner Freundin und der SMU-Vorständin Brigitte Oytoy einen Facebook-Livestream organisiert, mit dem Titel „Queer Diaspora – the new revolutionary class?“. Dort haben wir mit Mala Badi, einer in Amsterdam lebenden marokkanischen trans Aktivistin mit Fluchtbiografie diskutiert, auch wenn wir am Ende keine eindeutige Antwort auf die Frage hatten. Es war eine süße Veranstaltung, die einem*einer was zum Nachdenken gegeben hat.
Das Schwule Museum ist eine eigentlich weiße Institution – das sage ich, weil ich das schon am eigenen Leib zu spüren bekommen habe. Wie stehst du zu dieser Aussage?
Das stimmt. (beide lachen) Hier sitzen zwei der drei BIPoCs, die es länger als drei Monate im Büro ausgehalten haben. Die Box die ich heute mitgebracht habe ist eine Art gemischte Kiste zu queerem BIPoC Aktivismus. Das ist fast alles, was es so an BIPoC-Aktivismus-spezifischem Material im Archiv gibt. Es gibt noch ein paar Plakate, den ein oder anderen kleinen Bestand – hier ist zum Beispiel nicht die Sammlung zur „Schwulen Internationalen“ drin. Aber so oder so, das bleibt schon echt überschaubar im Schwulen Museum, wenn’s intersektionaler wird. Und darum geht es eben auch in dem Projekt, das ich mache. Also, sich zu fragen: wie kann es sein, dass das Bewegungsarchiv des Schwulen Museums so weiß ist? Hier haben Menschen ihre Flyer, Pornos, Notizheftchen, privaten Gegenstände abgegeben und vermitteln uns heute damit den Eindruck, dass die Schwulenbewegung Westdeutschlands, aus der das SMU ja hervorgegangen ist, sowie die Frauen- und Lesbenbewegung ziemlich ausschließlich weiß war. In der Letzteren mussten sich beispielsweise Schwarze Frauen ihren Platz regelrecht erkämpfen; daraus ist 1986 die ADEFRA hervorgegangen. Je länger ich gegraben habe, desto klarer wurde: diese Bewegungen stehen in der Tradition einer linken, weißen Student*innenbewegung, die sehr bildungsbürgertümlich geprägt war. Und darauf baut das Archiv eben auf. Die Migra- und BIPoC-Bestände sind recht klein, was am Ende nicht nur etwas damit macht, was man vor Ort findet, sondern auch zeigt, was das für ein Raum ist; was für Strukturen man dort vorfindet, und wie er funktioniert … Ich denke aber auch, dass so Störungen, wie z.B. durch meine Arbeit, Effekte haben und Änderung bringen. Ich bin noch lange nicht fertig!
Bist du mit der Idee an das Schwule Museum herangetreten, Sand ins Getriebe zu werfen? Oder hattest du ein anderes, vielleicht naiveres Selbstverständnis zu Beginn deiner Arbeit?
Also ich bin nicht an das Schwule Museum gekommen, weil ich diesem einen Gefallen tun wollte. Mein Ziel war nicht, zum Museum etwas beizutragen; das ist dann irgendwie einfach so passiert. Eigentlich bin ich hierhergekommen, weil ich Forschung zu einer Bewegung machen wollte, der ich viel zu verdanken habe. Eine Bewegung, die sich manchmal nicht so anfühlt, als wäre es eine zusammenhängende; eine Bewegung, die manchmal nicht als breite, kämpferische Bewegung sichtbar wird. Queer-of-Color-Communities habe ich nicht nur viel zu verdanken, sie haben mich großgezogen und ich bin Teil von ihnen. Gleichzeitig hatte ich oft das Gefühl, wir hätten keine eigene Geschichte. Nun kann ich zum Glück wissenschaftlich arbeiten und bin bissfest genug, um mich im Zweifelsfall mit schwulen Männern zu streiten… Und so bin ich in dieses Archiv gekommen. Relativ zeitgleich hat das Schwule Museum angefangen, gezielter nach Möglichkeiten zu suchen, antirassistische und BIPoC-Themen zu fördern. Daraus ist dann im Winter 2021 schließlich eine Kooperation geworden, die immer noch läuft.
Das ist echt eine Menge, was du in den letzten Jahren geleistet hast und immer noch leistest. Wie schaffst du das alles?
Schaff‘ ich nicht. Irgendwas fällt immer hinten rüber, und ich habe schon lange keinen Urlaub gemacht… Und Sachen brauchen eben auch mal länger! Eigentlich ist es ein überschaubares Projekt, mit dieser Kiste zu arbeiten, weil da gar nicht so viel Material ist; trotzdem hat es drei Jahre gedauert.
Ist dir etwas aufgefallen, was die Arbeit am und mit dem Schwulen Museum, oder eben mit dieser Kiste, besonders macht?
Das Archiv hier ist ein totes und lebendiges gleichzeitig, das macht es für mich aus. Es ist ein Bewegungsarchiv, in dem die emotionalen Verbindungen der Menschen zu den Materialien ganz offenkundig sind. Trotzdem ist es ein koloniales Archiv. Das sind die vier Achsen, die mich daran bewegen. Auf der einen Seite ist es insofern lebendig, als dass hier das landet, was mit den Menschen zu tun hat. Dann machen Menschen auch viel ehrenamtliche Archivarbeit. Sie kommen über ihre eigene Queerness ans Schwule Museum, fangen hier an etwas zu machen, operieren mit dem Archiv, forschen im Archiv, für manche kommt ein aktivistischer Umgang hinzu… Weil nur ein kleiner Prozentteil des Archivs erschlossen ist, musst du Leute kennen und wissen, wer was weiß, um etwas zu finden. Das ist ein weiterer lebendiger Aspekt daran und kann schön und romantisch sein. Gleichzeitig ist das aber auch ein Problem: wenn diese Verbindungen gerade nicht da sind, gar abgebrochen sind, dann stehen die Materialien einfach nicht zur Verfügung. Dann sind die in den Untiefen des Kellers, in irgendwelchen Mappen, Boxen, Kisten, unauffindbar, weil nicht erschlossen. Dann ist es auf einmal ein totes Archiv, kein lebendiges mehr.
In der Arbeit mit dem Archiv, dieser Kiste und ihrem Material musstet du mit Sicherheit lernen, mit Leerstellen umzugehen, oder?
Ich würde da nicht von Leerstellen sprechen. Es gibt keine Leerstellen, weil Leerstellen implizieren, dass man etwas vergessen hat, was da eigentlich reingehört. Aber dass das hier der überschaubare Bestand „BIPoC“ darstellt, hat nichts damit zu tun, dass man uns vergessen hat. Sondern mit Rassismus. Und es sagt eben auch: Queere BIPoC Aktivismen sind immer auch in Abgrenzung zu weißen LSBTIQ-Bewegungen entstanden.
Hört hört, du hast das R-Wort gesagt (lacht)
Ja, das muss ich. Das Archiv ist einfach auch das Ergebnis von einer Bewegungspraxis voller Ausschlüsse, die rassistisch waren und sind. Die Bestände und ihre Zusammensetzung deuten darauf hin, wie hier Spezifika von Rassismus, Klassenverhältnissen und Queerfeindlichkeit zusammenspielen. Es ist das Archiv einer weißen Schwulen-Bewegung. Mittlerweile gibt es ein paar trans* Bestände, ein paar lesbische Bestände… Aber das sind nicht viele. Und es wird noch weniger, wenn es intersektionaler sein soll, beispielsweise eben BIPoC oder migrantisch.
Was denkst du, wie sieht die Zukunft in der Hinsicht aus?
Ich glaube es verändert sich, Communities eignen sich das Archiv ja auch an. Aktuell haben viele weiße trans* Aktivist*innen, aber auch eine BIPoC trans Künstlerin, ihre Nachlässe dem Schwulen Museum hinterlassen – vielleicht auch wegen des Mangels eines trans Archivs, das ist aber eine andere Diskussion. Zugleich verändert das einfach, was hier passiert. Das macht was! Auch dadurch, dass ich hier seit drei Jahren störe und über BIPoC-Themen rede, verändert sich etwas. Im Endeffekt ist das Schwule Museum ein wichtiges Haus, in dem tolle Menschen arbeiten. Wenn ich Kritik äußere, wie diese eben, dann ist das immer eine strukturelle. Ich sage nicht „Das waren früher alles rassistische Schweine und wir müssen alles hier auf den Müllhaufen werfen“. Vielmehr geht es mir darum, darauf hinzuweisen, wie Ausschlüsse funktionieren und wie eine Verantwortung für ein Archiv oder ein Museum, das sich jetzt queerer, intersektionaler und kritischer versteht, aussehen könnte. Wir wollen alle nochmal was anderes von der Welt.
Vielen Dank für deine Arbeit, Tarek! Ich hoffe du störst uns noch für eine ganze Weile…
Interview & Foto: mino Künze