Julia Hartung hat es geschickt angestellt, sie kann im Rahmen ihrer Lohnarbeit sowohl ihrem Nerdtum als auch ihrem politischen Anspruch nachgehen. Als neue Archiv- und Sammlungsleitung des Schwulen Museums hat sie mit uns über ihren Weg von der Antifa ins Archiv und ihre Leidenschaft für bewegende Lebensgeschichten gesprochen und dabei erklärt, warum Archive per se politisch sind und welche Visionen sie für die Zukunft des SMU-Archivs hat. Für dieses Interview haben wir Julia wirklich ein paar Löcher in den Bauch gefragt, und dafür einen Crashkurs in Archivarbeit erhalten – aber lest selbst.
mino: Hallo Julia, danke für deine Geduld mit mir! Ich hatte ja ein paar Minuten Verspätung und dann gleich die Sorge, du würdest dich vor unserem Gespräch drücken, wenn ich es nicht pünktlich ins Büro schaffe…
Julia: Genau! Du hattest deine Chance!! (lacht)
Hast du etwa Scheu vor der Öffentlichkeit?
Nö, das würde ich nicht sagen. Aber mein erster Impuls bei deiner Anfrage für dieses Interview war, dass ich es lieber erst in sechs Monaten gegeben hätte; jetzt habe ich selbst noch mehr Fragen als Antworten. Aber ich bin froh, dass wir jetzt hier sitzen. Die erste Zeit an einem neuen Ort bringt oft eine Perspektive mit sich, die eine produktive Überwältigung sein kann.
Du hast es schon angesprochen, du bist relativ neu im SMU – willst du uns ein bisschen über dich erzählen?
Gerne! Von Haus aus habe ich Soziologie, Politikwissenschaften und Friedens- und Konfliktforschung studiert. Das sind alles wichtige Tools für mich, um die Welt zu begreifen und zu verändern. Ich habe schon früh angefangen, Politik zu machen, und das hat mich dann auch auf den verschiedenen Stationen begleitet: in Tübingen, Marburg, Rom und Wien.
In welchen Bereichen hast du politisch mitgemischt?
Ich bin links positioniert, habe lange Antifa-Arbeit gemacht und bin heute auch in der Antigentrifizierungspolitik aktiv. Politisch aktiv sein und sich an der Veränderung der Gesellschaft beteiligen, das sind für mich selbstverständliche Teile des Lebens. Meine Liebe zum Archivieren habe ich dann in Wien entdeckt, wo ich durch ein Praktikum am Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands gelandet bin. Das hat mir so viel Spaß gebracht, dass ich mich Jahre später darauf besonnen habe und den steinigen Weg der Archivwissenschaft gegangen bin. Ich habe mich für das berufsbegleitende Masterstudium in Potsdam entschieden – das habe ich ja auch vor noch gar nicht allzu langer Zeit abgeschlossen. Meine Abschlussarbeit schrieb ich übrigens über Strategien gelingender Überlieferungsbildung in freien Archiven.
Welche Eigenschaften muss man mitbringen, um diesen Job gut zu machen?
Ich habe die unterschiedlichsten Menschen in diesem Beruf erlebt, aber eine Affinität zum Nerd-Sein schadet nicht (beide lachen). Wir alle kommen zum Archivieren über ein starkes Geschichtsbewusstsein. Im Archivwissenschaftsstudium wird dann gelehrt, dass man sich nicht zu sehr in die eigenen Bestände versenken darf… Wir Archivare*innen sind diejenigen, die etwas für euch aufbereiten: wir erschließen es, machen es sichtbar und zugänglich. Aber die Menschen, die damit forschen, sind dann oft andere. Damit muss man klarkommen!
Was reizt dich an der Disziplin?
Die Archivwelt ist ja prinzipiell staatsorientiert. In dieser Tradition sind dann auch die deutschen Archive nach 1945 fortgeführt worden. Lange Zeit ist man davon ausgegangen, dass der Staat in allen Bereichen des menschlichen Lebens präsent ist und so Geschichte geschrieben werden kann. Bewegungsarchive haben sich gegen diese Praxis gewendet, insbesondere in den 1970er und 80er Jahren, als die sogenannten neuen sozialen Bewegungen die Bühne betraten. Unsere Geschichte kommt in den Staatsarchiven nur verzerrt vor, z.B. als Geschichte der Repression. Die Bewahrung eigener historischer Quellen ist also extrem wichtig, wenn man die Welt verändern und die Zukunft gestalten möchte; in der Archivwelt nennen wir das Gegenüberlieferungsbildung. Ich finde die Erkenntnis mächtig, dass wir unsere eigene Geschichte schreiben müssen.
Wo warst du während des Studiums angestellt?
Zuletzt war ich im Bertolt-Brecht-Archiv und davor in anderen Abteilungen des Archivs der Akademie der Künste. Da habe ich zum Beispiel den Nachlass von Leo Borchard erschlossen, einem Musiker, der von den Alliierten zum ersten Dirigenten der Philharmonie nach dem Faschismus ernannt werden sollte. Daraus ist übrigens nichts geworden, weil er 1945 am Checkpoint aus Versehen erschossen wurde – er kam von einer Party und der Chauffeur hat nicht gehalten… Mit solchen wilden Lebensgeschichten ist man im Archiv konfrontiert!
Und wie bist du jetzt im Schwulen Museum gelandet?
Es liegt in der Logik der freien Archive, dass sie das Archivieren als politische Praxis begreifen: „Wir sichern unsere eigene Geschichte und das ist ein politischer Akt!“ Deshalb wird die Mitarbeit an solchen Archiven oft ehrenamtlich betrieben. Als ich die Ausschreibung des Schwulen Museums für die Stelle für die Sammlungs- und Archivleitung gesehen habe, und mein regulärer Vertrag im Bertolt-Brecht-Archiv sowieso gerade auslief, musste ich mich einfach bewerben! Das ist so selten, dass eine Stelle auf Leitungsebene in einem freien Archiv angeboten wird. Ich habe mich unheimlich gefreut, als das direkt geklappt hat!
Wie gefällt dir soweit die enge Verzahnung des Archivs mit einem musealem Ausstellungsbereich, wie sie im SMU der Fall ist?
Die Akademie der Künste verfügt ja auch über große Museen, insofern konnte ich zum Glück schon etwas Erfahrung diesbezüglich sammeln. Ich finde das im Schwulen Museum sehr spannend, weil die Zeitlichkeit zwischen Archiv und Ausstellung eine andere ist: wo in der Akademie ein vierzig Jahre alter Nachlass reinkommt, liegen die Zeitpunkte hier im Museum viel enger aneinander. Auch die Möglichkeit, die Archivalien für die Ausstellungen zu nutzen, sind im SMU eher gegeben. Als Teil meiner Arbeit im Archiv könnte ich mir gut vorstellen, die Einführung der Kurator*innen neuer Projekte in das Archiv auszubauen. Jedes neue Projekt ist eine neue Perspektive auf unser Archiv, wir sollten diese mehr nutzen!
Zuletzt haben wir mit dir über die Haushaltskürzungen des Senats gesprochen, da diese auch die IT-Stelle des Hauses betreffen. An der Stelle hast du gesagt: „Die Langzeitarchivierung ist nur mit einer Inhouse-IT-Unterstützung zu gewährleisten, und die Online-Sichtbarkeit der Bestände wird eingeschränkt.“ Nun die Frage an dich, wie das Archiv mit den faktisch beschlossenen Kürzungen umgehen will…
Die Kürzungen sind nicht hinnehmbar. Ich bin nicht bereit, diese Prekarisierung, die die ganze linke und freie Szene betrifft, zu verwalten. Ich sehe unsere Aufgabe nicht darin, mit den immer kleiner werdenden Zuschüssen zurechtkommen zu müssen – oder sich damit zu profilieren, dass man trotz Kürzungen den Betrieb aufrechterhält. Das Schwule Museum ist eine politische Institution, und ich habe mich sehr darüber gefreut, dass wir so dezidiert an die Öffentlichkeit gegangen sind. Wir machen wertvolle Arbeit und brauchen dafür die entsprechenden Ressourcen! Den Weg würde ich gerne auch weiterhin gehen. Wenn wir darüber sprechen wollen, wie das dann konkret im Alltag gestaltet werden soll, wird der Weg mit Sicherheit auch über Projektanträge gehen müssen.
Die oben angesprochene digitale Langzeitarchivierung stellt eine große Herausforderung für alle Archive dar: Wie können Dateien vor Datenkorruption geschützt werden? Wie kann die Lesbarkeit von files über einen langen Zeitraum hinweg gewährleistet werden? Ich freue mich, meine archivfachliche Expertise einzubringen, aber die digitale Langzeitarchivierung können wir nicht ohne geschulte IT-Kräfte angehen.
Wie entscheidest du, als Archivs- und Sammlungsleitung, welche Dokumente, Objekte und Geschichten quasi archivierungswürdig sind?
Diese Entscheidung nennt man die archivische Bewertung, die „Königsdisziplin“! Im SMU wir diese Aufgabe gemeinschaftlich bewältigt und das liebe ich auch: dadurch wird es so reichhaltig, bunt und nah an der Community! Als Archivarin bringe ich das Rüstzeug mit, also Kriterien zur Erleichterung dieser Entscheidung. Zum Beispiel gibt es die unikale Überlieferungsbildung, heißt strenggenommen, ein Archiv bewahrt nur das auf, was es ein einziges Mal auf der Welt gibt. Auch hilfreich ist ein Sammlungsprofil, das beispielsweise geografische Einschränkungen definieren kann. So eins entwickle ich jetzt für das Schwule Museum weiter, ein großes Privileg. Ein weiteres archivfachliches Prinzip lautet: verdichtete Überlieferungsbildung ist bessere Überlieferungsbildung! Das heißt: Was für eine Person, Institution oder Bewegung kennzeichnend ist, wollen wir in unsere Bestände übernehmen. Dazu müssen wir verdichten! So stärken wir auch weiterhin das Renommee unseres Archivs.
Hast du Strategien dafür, wie wir trotz dieser notwendigen Verdichtung gewährleisten können, dass eine queere Vielfalt in der Sammlung abgebildet wird?
Blinde Flecken und Leerstellen in der archivischen Sammlung zu vermeiden, bleibt eine konstante Herausforderung. Bei Neuzugängen profitiert das Archiv ungemein von der SMU-Community: Ob Vorstandsmitglieder, Ehrenamtliche oder Kurator*innen – alle tragen dazu bei, die „queere Vielfalt“ ins Archiv zu bringen.
Fühlst du dich denn in kompetenter Gesellschaft?
Na absolut, sehr kompetent! Ich merke jeden Tag aus Neue, was für tolle Menschen mit spannenden Biografien und wieviel geniales Wissen hier im Haus versammelt sind. Da bin ich gerade wirklich in der Frisch-Verliebtseins-Phase.
Behalt die rosarote Brille gerne auf! (beide lachen) Wie ich sehe hast du uns so einen Neuzugang auch mitgebracht?
Genau, das ist ein Neuzugang, der auch noch nicht verzeichnet ist. Ich fand es schön, etwas zu nehmen, um das ich mich von Anfang gekümmert habe. Und zwar habe ich einen Anruf bekommen von einer Person, die einen über 80 Jahre alten Freund hat. Der war in der Bundeswehr als Schwuler von Verfolgung betroffen und wurde sogar gegen seinen Willen in die Psychiatrie eingewiesen. Er hat schließlich Entschädigung erkämpft für das Unrecht, das ihm widerfahren ist. Die Archivalien dazu umfassen amtliche Dokumente und sind schön vergilbt, wie man sich das wünscht. Was schwulen Männern in der Bundeswehr widerfahren ist, wurde mit Sicherheit noch nicht erschöpfend erforscht. Mich persönlich begeistert es, dass eine Person mit über 80 sagt: „Dafür schäme ich mich nicht, sondern ich bin stolz darauf und will das zum Teil einer Bewegungsgeschichte machen.“ Dieses Beispiel zeigt eine Win-Win-Situation, in der sich eine Person mit der eigenen Geschichte auseinandersetzt und Zuspruch erfährt: „Ja, was dir da widerfahren ist, ist Unrecht!“; und gleichzeitig diese Dokumente einen Aufbewahrungsort finden und wir uns dann über solche historischen Quellen freuen können!
Ich bin gerade überrascht davon, wie persönlich und intim deine Arbeit sein kann…
Mist, dabei habe ich doch Archivwissenschaft studiert, damit ich nichts mit Menschen machen muss… (lacht) Spaß beiseite, total! Es ist ein großes Privileg und eine große Verantwortung, wenn Personen sich dir anvertrauen. Als Archivar*in hat man viele Berührungspunkte!
Wie sehen deine Visionen für die Zukunft des SMU-Archivs aus?
Zunächst möchte ich das Haus richtig kennenlernen. Wir haben ja ein tolles, funktionierendes Archiv. Das haben viele Leute mit Herzblut zu dem gemacht, was es heute ist. Für mich ist es wichtig zu verstehen, was hier läuft und warum es so läuft, und mich dann einzubringen. Einigkeit herrscht beim Wunsch, den Aufbau der Datenbank voranzutreiben. Eine voll funktionsfähige Datenbank würde einen Fortschritt in der Nutzbarkeit und Sichtbarkeit des Archivs und der Sammlung bedeuten.
Außerdem ist unsere Verbundenheit zur Szene unser größter Trumpf. Ein Bewegungsarchiv lebt von dieser Nähe. Solange queere Menschen dieses Haus als ihren Ort wahrnehmen, als Ort, an dem sie „sein“ können, egal ob politisch aktiv oder nicht, bleibt das Archiv lebendig. Teil davon ist die freiwillige Beteiligung der Ehrenamtlichen im Archiv. Wir bekommen nicht nur Archivalien zugeliefert, sondern haben so viele Menschen, die sich vor Ort einarbeiten und einbringen. Dass Menschen aus der Community unmittelbar im Archiv mitwirken, ist eine geniale Stärke unserer Struktur!
Das macht doch direkt Lust auf Archivarbeit! Danke Julia für das Gespräch!
Interview & Foto: mino Künze