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Stefan Nagel: Unvordenklicher Saft

15. Februar 2018 19:00

Der Vortrag fragt nach dem Sinn von Sexualität jenseits ihrer biologischen und sozialen Funktionen. Mit dieser Frage nach dem Sinn bewegt er sich, ohne dessen epistemischen Gehalt preiszugeben, außerhalb des naturwissenschaftlichen und auch bestimmter Formen des psychologischen und sozialwissenschaftlichen Denkens. Diesem Denken ist gemeinsam, dass in ihm Sinn und Funktion zusammenfallen oder aber Sinn für eine sinnlose Kategorie gehalten wird. Ohne die Gefahr der Etablierung einer ‚Metaphysik‘ der Sexualität zu verkennen, soll eine Analogie zum Verständnis des Problems beitragen: Die Funktion des Bauens ist die Errichtung eines Hauses, der Sinn des Bauens jenseits dieser Funktion jedoch das Wohnen. Wohnen meint als Zuhause-Sein an einem an sich fremden und womöglich sogar feindlichen Ort mehr, als sich lediglich dauerhaft in einem Haus zu bergen, meint nicht nur Behaust-Sein, es meint eine Veränderung des Zustands des Bewohners, nämlich die Überwindung von Fremdheit und den Übergang in Vertraut- und Verbundenheit, meint die Entstehung von Heimat. Übertragen auf Sexualität behauptet der Vortrag, dass der Sinn von Sexualität darin liegt, die unaufhebbare Fremdheit und Feindlichkeit eines differenten Begehrens und einer differenten Identität in Nähe zu verwandeln, in Beiwohnen. Diese Aufhebung von Differenz durch eine, wenn auch flüchtige Komplementarität des Begehrens und der Identität ist jedoch kein bloß mentales, also letztlich symbolisches Ereignis im Rahmen bestimmter Bedeutungszuweisungen, sondern ein distinkter leiblicher Akt, in dem der Leib mehr ist als die vermeintliche oder tatsächliche Epiphanie eines Symbols. Der Leib ist, er steht nicht für etwas. Das Begehren in all seiner Intensität begehrt kein (System von) Zeichen, sondern einen anderen Leib, und zwar nicht irgendeinen Leib, sondern einen geschlechtlich bestimmten und seinerseits begehrenden Leib, mit dem sich etwas Bestimmtes ereignen soll. Dabei geht es nicht um eine außerhalb der Sexualität liegende Funktion, also um Sexualität als Mittel, sondern um erfüllte Nähe um ihrer selbst willen. Dann fließt unvordenklicher Saft.

Dadurch bietet sich in der Sexualität im Gegensatz zu allen unseren sonstigen Beziehungen eine konkret und eben nicht bloß abstrakt mögliche Emanzipation aus den Banden der Natur und der Gesellschaft, die den Leib beide als Mittel zu ihren fertilen und sonstigen Zwecken verwenden und mit Begehren und Identität eine ‚natürliche‘ oder (vermeintlich daraus ableitbare) soziale Rolle und Beziehung verknüpfen. Diese emanzipatorische Option der Sexualität besteht jedoch nicht ihrer Herkunft nach, also nicht in Bezug auf Begehren und Identität. Hier bleibt Sexualität nicht nur beschränkt und absolut unfrei, sondern gründet sogar in der Bestimmtheit des Begehrens und der Identität, also ihrer Beschränktheit. Der Moment der Freiheit liegt im Selbstzweck des begehrlichen Berührens des und Berührtwerdens durch den zuvor fremden und feindlichen Anderen. Nur in der Kunst ist eine vergleichbare Begegnung möglich, aber dort nicht als sinnlich-unmittelbarer, sondern als sinnlich-mittelbarer Akt, also ohne Saft

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Stefan Nagel, geboren 1957 in Krefeld, studierte neben Medizin auch Philosophie und Germanistik. Nach Staatsexamen und Promotion arbeitete er als Assistenzarzt in der Anästhesie und Intensivmedizin sowie in der Psychosomatik. Im Rahmen letzterer Tätigkeit erwarb er die Zusatzbezeichnungen Psychotherapie, Psychoanalyse und Sozialmedizin sowie den Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Außerdem war er vorübergehend als Dozent für Neuere Deutscher Philologie tätig. Nach langjähriger Tätigkeit in eigener Praxis kehrte er schließlich in die stationäre Psychosomatik zurück und leitet zur Zeit eine Abteilung für Psychosomatik in einer Rehabilitationsklinik. Wissenschaftlich beschäftigt er sich unter anderem mit theoretischen, ethischen, medizinischen, psychologischen und gesellschaftlichen Aspekten von Sexualität.

„Faszination Sex“ und dazugehörige Veranstaltungsprogramm wird mit freundlicher Unterstützung von der Rosa Luxemburg Stiftung, Akademie Waldschlösschen, Historisches Museum Frankfurt, LGBTI-Referat im Referent_innenRat (gesetzl. AStA) der Humboldt-Universität zu Berlin, Kinothek Asta Nielsen e.V., Forschungsstelle Kulturgeschichte der Sexualität an der Humboldt-Universität zu Berlin und der International Psychoanalytic University realisiert.