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Obsessionen

17. August 1994 – 27. November 1994

Populär waren in den zwanziger Jahren Führungen durch die Schausammlung des Instituts für Sexualwissenschaft. Es gab Geschlechtstypenabweichungen, Geschlechtstriebabweichungen und locker eingestreutes völkerkundliches Material auf Fotos und Zeichnungen zu bestaunen. An die Geschichte von Hirschfelds Institut, an sein Lebenswerk, erinnert zurzeit eine weitere Ausstellung um Schwulen Museum. Das Museum sammelt ganz in der Hirschfeldschen Tradition, alles was schwules leben, schwules Sexualverhalten beleuchtet, darstellt und illustriert. Unserer zusammengetragenen Objekte zum Thema Alter, Sexualität und Sammelwut haben wir nun als Fortführung und Ergänzung zu Hirschfelds Sammeltätigkeit in der Ausstellung Obsessionen ausgebreitet.

Viele der gezeigten Objekte sind Dokumente von Sexualität im Alter. Es scheint, dass mit fortschreitendem Alter und der damit verbundenen Einsamkeit die sexuellen Praktiken immer radikaler werden. Die Lust an der Dokumentation ersetzt den nicht mehr vorhandenen Partner. Oft wird der Fotoapparat zum Gespielen, der die Lust steigert, Exzesse provoziert und Wiederholungen erzwingt.

Sexualität ist seit den Anfängen der Fotografie ein zwar geächtetes, aber desto heftiger genutztes Motiv. Heterosexuelle Pornografie des 19. Jahrhunderts hat durch viele Ausstellungen längst Kunststatus erlangt. Kritisch wird die Auseinandersetzung mit so genannter Pornographie erst dann, wenn sie sich zeitgenössischen Tabus nähert. Darstellungen sexueller Handlungen zwischen Männern gelten in den zwanziger Jahren als schockierende. Als possierlich angesehen wurden dieselben Praktiken, wenn sie durch Knaben illustriert waren. Heute hat sich dieses Verhältnis total gewendet. Alte Menschen und die Darstellung ihrer sexuellen Bedürfnisse rühren immer noch an ein tabu. Zwar wird darüber geredet, aber Abbilder dieser Lust verweisen allzu sehr auf den Verfall des Körpers, auf den unausweichlichen Tod. Sexuelle Bedürfnisse im Vorfeld des Todes sind nach wie vor schockierend.

Mit der Einführung der anonymen Großlabors konnten auch Personen ohne fototechnische Kenntnisse relativ gefahrlos ihre Obsessionen in Bilder bannen. Der reiz liegt dabei in der Wiederholung. Diese Bilder dienen der Vergewisserung der eigenen Lust, der eigenen Existenz. Sie sind ein Mittel gegen die Angst vergessen zu werden. Fotografie ist ein magischer Versuch, als Normalsterblicher ein Zipfel der Unsterblichkeit zu erhaschen. Viele dieser Bilder sind mit Selbstauslöser gemacht. Häufig merkt man ihnen die sexuelle Spannung an. Sie sind unausgewogen, verhuscht oder verwackelt. Der Akt des Fotografierens ist bei all diesen wollüstigen Handlungen nur der eine Teil. Obsessionen wollen gehegt und gepflegt werden. Lust wird katalogisiert, ordentlich auf Sammelblätter geklebt, beschriftet, statistisch bearbeitet und abgeheftet. Alben, Aktenordner, säuberlich beschriftete Kisten zeugen von der heimlichen Kunst und der Besessenheit ihrer Schöpfer. Schamvoll gehütet, nur Personen zugänglich, die der eigenen Neigung nicht abhold, dokumentieren sie homosexuelle Praktiken außerhalb der gelackten Welt der kommerziellen Pornografie.

Museen sind Orte der Obsessionen. Hier werden Spuren längst vergangenen Lebens archiviert, gesammelt und ausgestellt. Hier werden Einstellungen, Kulturen, längst vergangene Normen im Bewusstsein der heutigen erhalten. Hier wir die Geschichte lebendig gehalten, zur Erhaltung, zum Gruseln, zur Kontemplation. Auch die Sexualität und ihre gesellschaftlich bedingte Ausprägung gehört zum Kanon der abendländischen Geschichte.

Kurator: Wolfgang Theis