An das Ende des Ersten Weltkriegs am 9.11.1918 wurde zuletzt viel und vielerorts erinnert. Neben dem homophilen Prinz Max von Baden spielte auch der offen homosexuell lebende Harry Graf Kessler (* 23. Mai 1868 Paris † 30. November 1937 Lyon) eine wichtige Rolle bei diesem Jubiläum. Als Diplomat wurde Kessler inoffiziell bei den Verhandlungen über die konkrete Ausgestaltung des Friedens von Brest-Litowsk hinzugezogen.
Kessler war Kunstsammler, Mäzen, Publizist und Diplomat, dessen Herkunft und Lebenslauf ihn als Kosmopoliten mit besten Kontakten empfahlen. Er übernahm 1903 die Leitung des Großherzoglichen Museums für Kunst und Kunstgewerbe mit dem Anspruch, ein Neues Weimar zu schaffen. Heute ist die Kunsthalle Weimar nach ihm benannt. Er war maßgebend verantwortlich für die Berufung Henry van de Veldes (Architekt und Jugendstil-Papst), organisierte Ausstellungen europäischer Avantgardekunst und gründete die preisgekrönte Cranach-Presse für höchste bibliophile Ansprüche. Ein Skandal über Aktzeichnungen von Auguste Rodin führte 1906 zu seinem Rücktritt. Er war ein Anhänger der Philosophie Friedrich Nietzsches und unterstützte Elisabeth Förster-Nietzsche bei ihren Unternehmungen in Weimar.
Die Tagebücher von Harry Graf Kessler
In der Einleitung der neu erschienenen Edition 2004 wird die Frage nach Harry Graf Kesslers Homosexualität etwas leichthin, fast indigniert beiseitegeschoben; fast so, als sei Homosexualität eine ansteckende Krankheit, jedenfalls ein Makel. Ganz so einfach ist das nicht. Denn wenn er selber auch als eleganter Mann von Welt nie über ein gelegentliches aber anonym bleibendes „Ich habe einen Menschen gefunden, für den ich alles gäbe“ hinausgeht, so ist doch sein Verhältnis seit 1907 mit dem Radsportler Gaston Colin durchaus belegt. Das war die Zeit, zu der er mit dem damals 17-jährigen Radrennfahrer und späteren Piloten reiste, mal auf das normannische Schloss der Mutter, mal nach Neapel, Rom oder Dänemark. Die Skulptur Le Cycliste, einer der apartesten männlichen Akte überhaupt, bestellte er – Phase für Phase kontrollierend – bei seinem Freund Maillol. Sie wird gezeigt in einer Ausstellung im Kolbe-Museum 2018. Im Liebermann-Haus am Brandenburger Tor gab es 2016 eine Kessler-Ausstellung.
Zitat: „Man wird in der Ästhetik nie wirklich weiterkommen, bis man nicht das Sexuelle in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt“.
Der größte deutsche Dandy
Da leuchtet dann auf einmal ein alles überwölbender farbiger Bogen von den alten Griechen bis zu den Nudisten der Jugendbewegung auf. Der menschliche Körper wird als Zentrum der Kunst gefeiert. Die sexuelle Energie als Grundlage aller Schönheitsempfindung herauspräpariert. Kessler, ein Kind seiner Zeit? Nein, als Kind aller Zeiten: Nur wer wie er die Kunst mit der Wollust verknüpft, kann für Ästhetisches empfänglich sein.
Das Objekt wird im Dezember ausgestellt in der Bibliothek, 1. Stock. Als Hintergrundbild dient ein Bild der Geschichtsausstellung im U-Bahnhof Bayerischer Platz, das ein von Edvard Munch gemaltes Portrait zeigt bei der Eröffnung der Nationalgalerie im Schloss Charlottenburg, 1953. Dazu eine Liste der in unserer Bibliothek über Kessler vorhandenen Bücher.