Dieses Album hat Nadja Schallenberg 1990 ihren Eltern zu Weihnachten überreicht. Die damals Zwanzigjährige hatte zu jener Zeit ihr Coming Out als “Lestra” (lesbische Transsexuelle) und als androgyne Frau. Sie wollte mit dem Album ihren Eltern ihre Gefühle, Ansichten und Pläne näherbringen. Es enthält selbstverfasste Gedichte, Fotografien, Korrespondenz und Zeitungsartikel, die ihre ersten Schritte auf dem Weg zur Geschlechtsangleichung dokumentieren.
In Ost-Berlin geboren und aufgewachsen wurde sie in den turbulenten Wendejahren zur transsexuellen Bürgerrechtlerin. Sie gründete die “1. Interessengemeinschaft für Transvestiten und Transsexuelle” in der DDR (1989), den “Info-Laden” am Sonntags-Club (1992) und die Selbsthilfegruppe „Butterfly“ für lesbisch-transsexuelle und queergestrickte Frauen (1998). Ihr Antrag auf Personenstandsänderung nach ostdeutschem Recht erlosch zusammen mit der DDR. Sie engagierte sich fortan für die Reform des restriktiveren Transsexuellengesetz der BRD, unter anderem mit einer erfolgreichen Klage am Bundesverfassungsgericht zur Abschaffung der Altersgrenze bei der Vornamensänderung.
Schallenberg gab 2009 umfangreiche Dokumentation ihrer rechtlichen und körperlichen Transition in das Archiv des Sonntags-Club. Der Bestand wurde später an das Schwule Museum übergeben. Dieses Album gab Schallenberg im Januar 2019 in die Sammlung, anlässlich der Ausstellung “Unboxed: Transgender im Schwulen Museum?”.
Schallenberg sagt, dass Offenheit auch über die intimsten Aspekte ihres Wegs wichtig sind, um Verständnis für Transsexuelle schaffen. In ihrer Aufklärungsarbeit benutzt sie Bildsprache, Film und Fotografien — genauso wie schon in diesem sehr persönlichen Album, dessen erste Leser ihre Eltern waren.
Text: Sebastian Felten, Unboxed Kurator
Foto: Karla Lück
Das Objekt des Monats wird ausgestellt in der Bibliothek des Schwulen Museums im ersten Stock.