Die öffentliche Bedürfnisanstalt hatte noch nie einen guten Leumund. Seit einigen Jahren arbeitet der französische Fotograf Marc Martin in Paris und Berlin zur Geschichte der Pissoirs und dem, was sie erlebt haben.
In diesen kostbaren Büdchen konnten sich unbeargwöhnt flüchtige oder intensive Beziehungen und Freundschaften entspinnen. Gewiss haben die dabei gefundenen Abwege ihre Spuren eher in den Protokollen der Sittenpolizei als in der Literatur hinterlassen. Die homosexuelle Community schämt sich ihrer wohl eher, als dass sie stolz auf sie wäre. Und dennoch bedeuteten diese Gebäude für zahlreiche Schwule, Transvestiten, Stricher und Sittenstrolche auch die Freiheit zum Abenteuer. Diese Durchgangsorte erlaubten untypische Gemeinschaften, in denen die sozialen Klassen durcheinandergerieten und sich unterschiedliche Milieus vermischten. So konnten sich in diesen „Pissbuden” alle möglichen Männer mit verfehmten Wünschen näherkommen, sofern sie ihre Angst überwanden. Die Klappen haben Millionen Männern gute Dienste geleistet.
Obwohl diese Sichtbarkeit nur im „Untergrund“ möglich war und oft als unwürdig und erniedrigend galt, zeigte sie doch immerhin, dass es so etwas wie Homosexualität überhaupt gab. Angesichts der allgemeinen Missachtung und unter dem strafenden Auge des Gesetzes drückte sich diese bis in die Achtzigerjahre mehr recht als schlecht eben dort aus, wo sie ein Schlupfloch fand.
Auf trüber Keramik oder vergilbter Ölfarbe haben sich hinter verschlossenen Türen Millionen von Graffiti angesammelt. Frei von den üblichen Regeln, ließen sie die Möglichkeit einer oder mehrerer Parallelwelten aufscheinen… Sie erzählen uns in einer rohen, zotigen Sprache von den uneingestandenen Wünschen einer ganzen Gesellschaft. Die Kreideinschriften an den Wänden der Klappen waren die Vorfahren der Kleinanzeigen, welche wiederum Grundlage für moderne Sex- und Datingapps waren. Als Anziehungspunkte für unaussprechliche Freiheiten, als Postämter für geheime Nachrichten oder als Rückzugsorte für verbotene Neigungen speicherten sie jeweils die Fantasien, die ihnen im Zentrum einer jeden Stadt und eines jeden Dorfes anvertraut wurden. Inmitten von Beleidigungen, Witzen, rassistischen Äußerungen und Laienphilosophie drücken sich trotz alledem auch Begierde und Liebe aus. Letztere sind es, die der Arbeit von Marc Martin die Richtung weisen.
Marc Martins beschäftigt sich mit urbanen Phantomen im Zusammenspiel mit männlichen Vorstellungswelten. Seine Fotos entlocken den Schattenseiten ihren heimlichen Glanz. Auch seine Hinwendung zu den Klappen ist nicht ganz harmlos. In seiner Betrachtungsweise überlagern sich die Epochen. Er bevorzugt die dreckige menschliche Realität gegenüber steril anmutenden gesellschaftlichen Erwartungen. Daher begnügt er sich nicht mit den Klischees über die letzten Überbleibsel einer verlorenen Vergangenheit, sondern er haucht ihnen mit aktuellen Inszenierungen, mit Zeugenberichten, mit Anekdoten und Archivdokumenten, die er über die Jahre aufgelesen hat, neues Leben ein. Seine aktuellen Fotos wird er zusammen mit denen anderer in Verbindung mit Zitaten verschiedener Autoren ausstellen. Den Düften der Klappen hat er bis in die Dichtung von Verlaine und Rimbaud nachgespürt. Seine Arbeit im Grenzbereich von Poesie und Pornografie legt so gerade gegenüber den jüngeren Generationen Zeugnis von einer Welt der sexuellen Begegnungen ab, die heute nahezu verschwunden ist.
Außerdem erhältlich sein wird ein Ausstellungskatalog, der alle von Marc Martin geführten Interviews in voller Länge enthält.
Mit freundlicher Unterstützung der Hannchen-Mehrzweck-Stiftung: hms-stiftung.de